: Immer radikal, niemals konsequent
Eine Ausstellung über den Philosophen und ein Buch über den Prä-Hippie Walter Benjamin ■ Von Mathias Bröckers
Mit Walter Benjamin hatte ich Glück: Das erste Buch, das ich über ihn zu lesen bekam, war Helmut Salzingers Swinging Benjamin. Es war 1974 — Hesse und Kafka, Kerouac und Büchner, Dada und RAF, Zappa und zwei Semester Marxismus (sowie die deutliche Ahnung, daß diese Art von Groß- Aufklärung, von Total-Theorie und in sich geschloßenem Wissenschaftsgebäude das Wahre nicht sein können) waberten durchs Studentenhirn. Von Benjamin hatte ich, außer ein paar kurzen Texten aus der Einbahnstraße bis dato nur raunen hören — vorgestellt wurde er mir in Salzingers Buch zuerst einmal mit 10 Seiten Intimklatsch: von seinen Frauen und Freunden, von seinen Lebens,- und Liebesgewohnheiten, seiner Reise- und Rauschgiftlust, seinem Aussehen und Charakter und seinem letzten Wunsch: „Einmal wieder auf einer Caféterrasse sitzen und die Daumen drehen — das ist alles, was ich mir noch wünsche.“
Daß die Herausgeber seine Gedanken unverschämterweise frisierten, ihnen sowohl den undogmatischen Marxismus als auch die undogmatische Bejahung der Technik austrieben — diese Darlegungen Salzingers verstärkten noch meine Sympathien: Wer so zuerst von den Nazis verfolgt und dann von den eigenen Freunden auf Mainstream zurechtgefälscht wird, an dem mußte einfach etwas dran sein.
Ich las alles, was ich von und über Benjamin kriegen konnte. Und ich wage nicht, jetzt eines dieser Büchern aus dem Regal zu ziehen, weil sonst dieser kurze Hinweis ein Zitaten-Faß ohne Zeilenende wird. Daß die Swinging Benjamin-Brille über dieser Lektüre aber die einzig senkrechte war, und jeder, der Benjamin ohne Salzingers Underground-Blick liest und nach-denkt, ihn nur mißverstehen kann, zeigt ein kurzer Blick auf die „Aura“. Vor hunderten Magister- und Doktor-Arbeiten der Benjamin-Philologie hätte der Wald verschont bleiben können, wäre Salzingers Nachweis, daß sich Benjamins „zerstreute Wahrnehmung“ und seine Vorstellung der „Aura“ schlicht starkem Haschisch-Genuß verdankten, seinerzeit wahr- und ernst genommen worden.
Allein, Prof. Drews befand in der 'Süddeutschen‘: „Kraut und Rüben...“, Prof. Steiner ekelte sich im 'Times Literary Supplement‘: „Es ist so vulgär wie sein Titel, ein schamloses Machwerk“ — von Swinging Benjamin wurden 1973-1975 (bei einem Ladenpreis von 3,80 DM) 1.100 Exemplare verkauft. Und so konnte es kommen, daß die banale Kifferweisheit, auf die der geniale Kopf Benjamin gestoßen war, zu einem bis heute nicht versiegenden Quell geschraubter Essayistik wurde.
Wobei von dem enigmatischen Paradox, wie man gleichzeitig bodenständiger Materialist und auratischer Metaphysiker sein kann, nach wie vor jeder marrokanische Analphabet hundertmal mehr versteht als die meisten Frankfurter Schüler. Daß ohne die Verschiebung (in den 60ern nannte man es Erweiterung) des Bewußtseins Benjamins Philosophie nicht zu klären ist, daß seine Kunst- und Medientheorie deshalb von Adorno, für den das technisch reproduzierte Kunstwerk dem Reich des Faschismus angehörte, nicht verstanden werden konnte, genau so wenig wie Benjamins Forderung nach einer Politisierung des durch die Medien völlig umgewälzten Ästhetischen — all dies (und vieles mehr) ist jetzt in einer Neuausgabe von Swiniging Benjamin nachzulesen.
Auch wenn der Streit um die Editionsarbeit nach Abschluß der Benjamin-Ausgabe mittlerweile historisch ist, kann Salzingers Polemik gegen die Herausgeber nicht als überholt gelten, denn, so Klaus Modick im Nachwort der Neuausgabe: „Über den Streit um Fassungen und ideologische Rücksichtsnahmen hinaus... [ist es] ihm vor allem darum zu tun, Benjamin vor der Einmauerung ins Museum der Philologie zu bewahren.“
Und so scheint, zumal im 50. Todesjahr, dieses Buch ein notwendiges Korrektiv zur Musealisierung Benjamins, zu einem abgesicherten, „wahren“ Gesamtbild dessen, der das Heil gerade nicht im Großen, Ganzen, Gesicherten und Fertigen suchte, sondern im Gebrochenen und Unbedeutenden, im Fragment und Augenblick, eher im Steinchen als im kompletten Mosaik.
Zahlreiche Bruchstücke aus Leben und Werk Walter Benjamins präsentiert eine kleine Ausstellung des „Theodor W. Adorno-Archivs“, die der maßgebliche Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedmann eingerichtet hat: Manuskripte, Briefe, Zeugnisse von Freudnen und Fotografien, von der Berliner Kindheit um 1900 bis zum Selbstmord auf der Flucht in den Pyrenäen 1942. Und mit Dokumenten aus der Zeit danach, dem Beginn der Nachgeschichte u.a., mit einem Entwurf einer Antwort Adornos auf die „linken und linksopportunistischen Attacken“ (Tiedemann) gegen seine Editionspraxis, die Helmut Heißenbüttel, Peter Hamm und Hannah Arendt Ende der 60er Jahre vom Zaum gebrochen hatten.
In dem ausführlichen Katalog, der einen Besuch der Ausstellung mehr als ersetzen kann, findet sich auch ein Hinweis, warum Adorno seine Replik nie veröffentlichte: „Die Last... und auch mein Affekt in dieser Sache sind so groß, daß ich mir nun doch nicht zutraue, jene Arbeit über Benjamin zu schreiben.“ So bleibt der Fall unerledigt und Rolf Tiedemann wird nicht müde, die unbestreitbaren Verdienste des Nachlaßverwalters Adorno zu rühmen. Insgesamt bietet dieser Katalog, mit vielen bisher unveröffentlichten Texten, Dokumenten und Fotos, ein bisher einmaliges Kompendium zum Leben und Werk des Schrifstellers — ein unverzichtbares Begleitbuch, um „Benjamin dead“ zu studieren, in akademisch astreiner CD-Qualität sozusagen.
„Live“ hingegen, und mit den klassischen Nebengeräuschen einer guten alten LP, läßt er sich in konzertierter Aktion mit dem kongenialen Mitspieler Salzinger, in Swinging Benjamin erleben: „Immmer radikal, niemals konsequent.“
Helmut Salzinger: Swinging Benjamin, Kellner-Verlag, Hamburg 1990, 248 Seiten, 32 DM
Walter Benjamin Gedenkausstellung, Schiller-Nationalmuseum Marbach (bis 14.Oktober), Literaturhaus Berlin (ab 21.Oktober), Katalog, Marbacher Magazin Bd.55, 360 Seiten, 25 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen