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Lafontaine in Siegesstimmung

SPD-Parteitag nominiert Lafontaine mit überwältigender Mehrheit zum Kanzlerkandidaten/ Stürmische Ovationen/ Deutsch-französisches Verhältnis als Vorbild der Aussöhnung mit Polen  ■ Aus Berlin Matthias Geis

Für einen Moment lang waren gestern auf dem ersten gesamtdeutschen SPD-Parteitag alle düsteren Wahlprognosen der letzten Wochen vergessen. Nicht die historische Feierstunde zur Parteivereinigung vom Vortag, sondern Oskar Lafontaines Wahlrede, mit der er sich seiner Partei gerade als Kandidat und dem Wahlvolk als Kanzler empfohlen hatte, peitschte das Stimmungsbarometer der Genossen unverhofft nach oben. „Das war Oskar“, kommentierte Karl-Heinz Hiersemann vom Präsidiumstisch aus lapidar. Der Parteitag stand Kopf. Minutenlange stehende Ovationen, die Parteispitze mit erhobenen Armen in Siegespose und Zugabeforderungen, die Oskar Lafontaine noch einmal ans Mikrophon trieben: „Ihr seht, ich kann noch kämpfen, ich kann noch fighten und mit euch, liebe Genossen, will und kann ich gewinnen.“

Mit einer tour de force durch das Regierungsprogramm „Fortschritt 90“, mit dem obligatorischen Rückblick auf die Fehler der Bonner Einheitspolitik und fein gestreuten, polemischen Schlägen hatte der Kandidat seine Genossen über eine Stunde lang verzückt und die eher ein bißchen wehmütige Zeremonienstimmung vom Vortag fast schon in Siegeseuphorie gewandelt. Das gelang wohl weniger mit den im wesentlichen bereits bekannten programmatischen Elementen als mit Lafontaines kämpferischem Ton und seiner von den Wahlprognosen ungetrübten Siegeszuversicht, die sich von der sozialdemokratischen Gefühlslage der letzten Wochen so deutlich abhebt.

Konträr zur deutschen Nabelschau und wenige Tage vor den Einheitsfeiern begann Lafontaine mit den außenpolitischen Perspektiven des künftigen Deutschland. Fingerspitzengefühl und Rücksichtnahme auf die Nachbarn seien jetzt notwendiger denn je. „Wir widerstehen“, so Lafontaine, „jeder Versuchung, wieder eine Weltmacht sein zu wollen.“ Den polnischen Schriftsteller Andre Szczipiorszki zitierend, wünscht er sich von einem künftigen geeinten Deutschland Skepsis und „Distanz zu sich selbst“. Auch westliche Vorbehalte will der Kandidat in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen. Jaques Delors habe vor der Gefahr eines „schwachen Europa mit einem starken Deutschland in der Mitte“ gewarnt. „Das gilt es politisch aufzunehmen“, so Lafontaine, der dem Mißtrauen in Westeuropa durch die zügige europäische Integration begegnen will. Es werde ein Europa der zwei Geschwindigkeiten geben, aber der Osten, dem gerade das geeinte Deutschland viel schulde, dürfe von der künftigen deutschen Politik nicht vergessen werden. Die deutsch-französische Aussöhnung müsse das Vorbild für die gemeinsame Zukunft der Polen und Deutschen werden. Erneut bringt er leidenschaftlich seine These, der Umbruch sei kein deutsch-deutsches, sondern ein europäisches Ereignis.

Die außenpolitische Passage ist zweifellos der programmatisch geschlossenste und überzeugendste Teil von Lafontaines Rede. Hier ist der Unterschied zur Deutschtümelei des Kanzlers ofensichtlich. Die nimmt Lafontaine dann im Zusammenhang mit seiner Kritik der Bonner Einheitspolitik auf die Schippe: „Von historischer Stunde zu historischer Stunde“ sei man geschlittert, der „Zug der Deutschen“ sei immer wieder „durch den Bahnhof der Geschichte gefahren“. Bei so viel Geschichte zögen es die Sozialdemokraten vor, sich der Zukunft und dem Alltag zuzuwenden.

Doch das geht auch bei Lafontaine erwartungsgemäß nicht ohne Rückblick ab. Daß die Wirtschaft im Westen boome, während sie auf der anderen Seite zusammenbreche — so habe er sich die Einheit eben nicht vorgestellt.

Zwar läß Lafontaine eine Akzentverschiebung seiner Wahlkampfargumentation erkennen: Die Kritik an der Währungsunion und ihren Folgen, die ihm immer häufiger als Rechthaberei des Verlierers ausgelegt wurde, steht nicht mehr im Zentrum. Aber ganz will der Kandidat nicht darauf verzichten, die populäre Einheitsstrategie der Bundesregierung mit ihren Folgen zu konfrontieren: „Es war ein Fehler, der DDR- Ökonomie die D-Mark zum Kurs 1:1 aufzuzwingen.“

Die frühen Warnungen Lafontaines, obwohl begründet, haben sich bislang, gemessen an seiner Popularität in der DDR, kaum ausgezahlt. Fraglich bleibt auch, ob die SPD mit dem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und einer ökologischen Orientierung des Steuersystems dem wolkigen, aber populär-patriotischen Einheitswahlkampf der Union etwas entgegensetzen kann. Gegen die Privatisierungseuphorie der Bundesregierung plädierte Lafontaine mit Blick auf die DDR für eine staatliche Industriepolitik. Ansonsten beschränkte er sich auf Einzelforderungen — Kindergelderhöhung, Dynamisierung der Mindestrente oder neue Wohnungsbauprogramme.

Auch wenn Lafontaine damit kaum ein wählerwirksam-zündendes Gegenprogramm zur Union entwerfen konnte, die Genossen dankten ihm den zuversichtlich-kämpferischen Einsatz: 470 Delegierte stimmten für Lafontaine als Kanzlerkandidaten, zwei enthielten sich, vier stimmten mit Nein.

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