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Ukrainer streiken für Unabhängigkeit

Für heute hat die Unabhängigkeitsbewegung Ruch zum Generalstreik aufgerufen/ Kumpel im Donbass wollen zur Arbeit gehen  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

„Schon seit dem 26. September kontrolliert die Miliz alle Einfallstraßen nach Kiew“, berichtet ein Vertreter der Republikanischen Partei der Ukraine ziemlich aufgebracht. Nach Kiew hineinfahrende Busse und Autos würden durchsucht. Für den 27. des Monats hatte ursprünglich die „Regionalunion Ukraine“, ein Zusammenschluß zahlreicher nationalistischer Organisationen, zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen. Denn am 1. Oktober nimmt der Oberste Sowjet der Republik seine Arbeit wieder auf. Ihn will man zu einer unbeugsamen Haltung gegenüber Moskau in der Unabhängigkeitsfrage zwingen: „Nein zum neuen Unionsvertrag“, heißt daher auch die Hauptparole des nun für heute angesetzten Ausstands.

Welchen Sinn aber sollten diese Schnüffelaktionen haben? Zeitschriften und Pamphlete der oppositionellen ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung Ruch und anderer Gruppierungen seien in Kiew schließlich an jeder Ecke erhältlich. „Drogen finden sie immer...“, antwortet er zögernd, in seiner Stimme schwingt aber noch etwas mit... „Waffen etwa?“ Am anderen Ende der Leitung bleibt es lange ruhig, bis das Dementi folgt: Das sei völlig aus der Luft gegriffen!

Stimmt. Keiner der Kontrahenten hat bisher zu physischer Gewalt gegriffen. Doch dieses Beispiel demonstriert das Ausmaß psychologischer Kriegführung zwischen den alten kommunistischen Kräften und einigen radikalen Propagandisten eines unabhängigen ukrainischen Staates. Ihr wichtigstes Stilmittel ist die Überzeichnung, wobei dem Gegner grundsätzlich dunkle Machenschaften unterstellt werden. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Kontroverse im August, als der neue nichtkommunistische Gebietssowjet des westukrainischen Bezirks Lwow kurzerhand das Korrespondentenbüro der Moskauer 'Prawda‘ schloß. Der Journalist hatte wiederholt die neuen Volksvertreter auf übelste Weise denunziert. Seither gab sich die 'Prawda‘ etwas gemäßigter. Aber am Vorabend des Streiks steigt sie wieder in den Ring, diesmal unter dem Motto: „Eine Schlacht von mehr als nur lokaler Bedeutung“.

Das Feindbild bleibt dasselbe: die neuen Sowjets, die der Forderung nach nationaler Autonomie mehr Aufmerksamkeit schenken, als der Gesundung der Wirtschaft. Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Denn die Ruch-Aktivisten, vor allem deren Ökonom Tschernak, basteln seit langem an einem neuen Wirtschaftskonzept. Nur geht dies bereits von völliger Souveränität aus.

Der Zorn des Moskauer Zentralblatts über die Entwicklung in der Ukraine ist leicht nachvollziebar: Denn die zweitgrößte Republik der UdSSR hält den Schlüssel für den neuen Unionsvertrag in der Hand. Zieht sie nicht mit, steht Moskau mit ein paar zentralasiatischen Republiken allein da. Auch Weißrußland würde sich die Sache dann noch einmal gründlich überlegen.

Selbst die „bescheidene“ Variante Alexander Solschenizyns ließe sich nicht mehr verwirklichen. Er visiert eine „Russische Union“ aller Slawen an, der neben Rußland die Ukraine, Weißrußland und Teile Kasachstans angehören sollen.

In der Prawda geraten nunmehr auch andere Kräfte in die Schußlinie. Das ist neu. „Mit Freudentränen in den Augen“ hätten sich die Deputierten des Obersten Sowjets in Kiew am Tag der Souveränitätserklärung in den Armen gelegen. Das war am 16.Juli, und was sei seither geschehen? Nichts. Die getroffenen Maßnahmen hätten die Lage alles andere als konsolidiert. Damit sind die Kommunisten angesprochen, die mit 239 Abgeordneten in der Kiewer „Narodnaja Rada“ (Oberster Sowjet) fast über eine Zweidrittelmehrheit verfügen. Auch sie stimmten im Juli für Souveränität. Kompromißformeln in der Deklaration hatten ihnen diese Türe offen gehalten. Außerdem konnten sie das Verlangen weiter Teile des Volkes nach Selbständigkeit nicht rundweg ablehnen.

Die Deklaration war der erste Schritt, doch nun muß ihre Umsetzung folgen und daran werden sich die Geister scheiden. Zwar treten die Kommunisten für eine souveräne Ukraine ein, aber mit dem Attribut „sozialistisch“ und als Teil der UdSSR. Betriebe und Bankwesen, Armee und Außenpolitik blieben Angelegenheiten Moskaus. Souveränität schrumpft in dieser Version zur „geistigen Wiedergeburt“ zusammen. Ruch dagegen will einen eigenen Staat, mit eigener Armee und selbständiger Außenpolitik, kurzum die uneingeschränkte Anerkennung als Subjekt des Völkerrechts. Der Druck der Straße soll dem Nachdruck verleihen. Denn die Opposition fürchtet, die kommunistische Mehrheit im Parlament werde trotz verbaler Willfährigkeit den Vormarsch durch taktische Scharmützel blockieren.

Indes argwöhnt Moskau, die Kommunisten könnten um der Selbsterhaltung willen noch fügsamer werden. So ganz von der Hand weisen läßt sich das aus Moskauer Sicht nicht. Wie anders sollte das sowjetische Verteidigungsministerium die Resolution des Kiewer Parlaments werten, in der bis zum 1. Oktober die Verlegung aller Wehrpflichtigen aus den Krisengebieten in die Heimat verlangt wird und die aller anderen Rekruten bis zum 1. Dezember? Auch wenn sich bei der Abstimmung über 100 Parlamentarier aus dem Staub machten, am Ergebnis ändert es nichts. Aus ihrer jeweiligen Perspektive überschätzen jedoch beide Seiten, Ruch und 'Prawda‘, die Handlungsfähigkeit der KP: Selbst in der Ostukraine, die einer erfolgreichen Russifizierungspolitik unterworfen war, und daher den radikalen Sezessionskurs nicht so ohne weiteres mitträgt, kämpft die Partei mit dem Rücken zur Wand. Die gestrauchelten Bergarbeiter des Donbass- Kohlereviers lösten die Parteizellen in ihren Gruben kurzerhand auf. „Gerade“, berichtet ein Mitglied des Streikkomitees, „hat der Erste Parteisekretär in Donezk die Parole ,zurück in die Schächte‘ ausgegeben, um eine Offensive zu lancieren.“ Die Streikfunktionäre halten die Erfolgsaussichten für ziemlich gering.

Die nationalukrainische Opposition versucht indes in ihrem Aufruf, Brücken gen Osten zu schlagen. Vorbehaltlos unterstützt sie alle politischen und wirtschaftlichen Anliegen der Schachtiori, deren Probleme ganz weit oben im Streikkatalog rangieren, gleich nach der Forderung, das AKW Tschernobyl endgültig stillzulegen. Doch die Schachtiori zaudern noch. Zwar haben auch sie nichts gegen die Vergesellschaftung des KP-Vermögens einzuwenden, wie es der Streikaufruf verlangt. Und die meisten von ihnen halten auch eine Privatisierung der Großbetriebe für unumgänglich. Soweit alles d'accord. Nur, ob man deshalb auf Teufel komm raus die Union verlassen muß? Daher hat das Streikkomitee keine einheitliche Linie für heute ausgegeben: „Jedes Kollektiv muß seine eigene Lösung finden.“ Die meisten werden am Montag wohl zur Arbeit gehen.

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