piwik no script img

Verbundenheit statt Verband

Bericht vom Weimarer Dichtertreffen  ■ Von Hans Christoph Buch

Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Namensgebung: Soll man von der erweiterten Bundesrepublik sprechen, von der ehemaligen DDR oder dem Beitrittsgebiet? Wie auch immer: Drei Dutzend Schriftsteller aus den alten und neuen Bundesländern — von Arnfried Astel und Volker Braun über Ludwig Harig und Wolfgang Hilbig bis zu Guntram Vesper, Martin Walser und Gerald Zschorsch — trafen sich auf Einladung der Verbandsvorsitzenden Rainer Kirsch (SV) und Uwe Friesel (VS) zu dreitägigen Lesungen und Gesprächen in Weimar. Notorische Grenzgänger wie Bernd Jentzsch und Gisela Kraft neben ortsfesten Dichtern wie Wulf Kirsten (Weimar) und Peter Hamm (München), die westdeutschen Erzähler Hugo Dittberner und Wilhelm Genazino neben den ostdeutschen Essayisten Friedrich Dieckmann und Bernd Leistner, der Deutschamerikaner Joachim Seyppel und der Rumäniendeutsche Werner Söllner, dazu Rainer Schedlinski und Helga Schütz aus Berlin (Ost) — die Liste ist unvollständig.

Die Stadt, von der die Goethesche Klassik und die Weimarer Republik ihren Ausgang nahmen — nicht zu vergessen das KZ Buchenwald — war als Tagungsort ebenso symbolträchtig wie die Fahrt dorthin: Eine hupende Blechlawine wälzte sich südwärts über die Autobahn, vorbei an qualmenden Schloten und stinkenden Müllhalden der Chemiekombinate von Leuna und Bitterfeld, schwefelgelber Smog, durchzuckt von den bläulichen Blitzen der Ambulanzen, die Tote und Verletzte mit Sirenengeheul ins nächste Krankenhaus transportierten, am Straßenrand ineinander verkeilte Autowracks, Trabi-Fahrer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Thüringen, einst das grüne Herz Deutschlands, ist zur grünen Hölle geworden, der Süden der DDR ein brodelnder Hexenkessel: Der Umschlag vom Gulag zum Gulasch, vom stalinistischen Biedermeier zum kapitalistischen Verkehrschaos hat sich mit atemberaubender Geschwindigkeit vollzogen; die Altstadt von Weimar ist mit Brettern verschalt, die Ruinen des realexistierenden Sozialismus werden gnädig den Blicken entzogen, westdeutsche Planierraupen schieben die Trümmer zu Bauschutt zusammen, aber es wäre falsch oder zumindest voreilig, die Verantwortung für vierzig Jahre geplanter Mißwirtschaft Helmut Kohl in die Schuhe zu schieben, der sich in Weimar als Abrißbirne betätigt. Politiker sind phantasielos, und so marode, wie er wirklich ist, hat niemand in Bonn sich den Zustand des anderen deutschen Staates vorgestellt.

Wie gehen die Schriftsteller der ehemaligen DDR mit dieser Erbschaft um? Wie reagieren sie auf den ideologischen Bankrott eines Systems, dem sie als kritische Partner der Macht selbst noch in der Negation verhaftet blieben — ein komplexes double-bind wie bei einem zerstrittenen Ehepaar, das zum Zusammenleben ebenso unfähig ist wie zur Trennung von Tisch und Bett: Der Staat war auf das kulturelle Prestige der Schriftsteller genauso angewiesen wie diese auf die jämmerlichen Privilegien, Westreisen und Literaturpreise, die als Almosen vom Tisch des Staates für sie abfielen. Und was geht in jenen DDR-Autoren vor, die, nachdem sie jahrelang von der bundesdeutschen Kritik als vermeintliche Dissidenten verhätschelt worden sind, als Kollaborateure beschimpft und öffentlich an den Pranger gestellt werden? Wie reagieren sie? Anstatt wütend zurückzuschlagen oder laut aufzuschreien vor Schmerz, bleiben sie standhaft wie Apatschenhäuptlinge, die an den Marterpfahl gefesselt werden: Sie verziehen keine Miene zum bösen Spiel und zucken nicht mal, wenn sich die Giftpfeile der 'Faz‘-Kritiker in ihr Fleisch bohren; die Folter durch die westdeutschen Feuilletons erscheint ihnen als logische Fortsetzung der ideologischen Daumenschrauben, die man ihnen früher im Osten angelegt hat.

So auch hier: Die in Weimar versammelten Schriftsteller aus der ehemaligen DDR schwiegen zumeist — mit wenigen Ausnahmen, von denen noch die Rede sein wird; oder sie zogen sich in die Schneckenhäuser ihrer Gedichte und Geschichten zurück, die sie vor drei, fünf, zehn oder mehr Jahren geschrieben und veröffentlicht hatten, fugenlos konstruierte Texte, wasser- und luftdicht versiegelt wie Parkett, perfekte Sprachkunstwerke, denen jede Spontaneität ausgetrieben waren. Vergeblich beschwor Arnfried Astel, der als Inspirator und Animator des Treffens vor und hinter den Kulissen agierte, mit Engelszungen die Autoren aus den neuen Bundesländern, das Wort zu ergreifen: Ihr hartnäckiges Schweigen war, wie das der Sirenen bei Kafka, beredter als ihr Gesang. Vielleicht ist es zu früh, von Schriftstellern, die mit unbekannten Nöten und sozialen Sorgen konfrontiert sind und von denen viele die Tragweite des Staatsbankrotts noch kaum ermessen, der sie betroffen hat, die literarische Aufarbeitung einer Vergangenheit zu verlangen, die für sie erlebte Gegenwart war. Worte wie Kritik und Selbstkritik haben in der DDR einen anderen Klang als bei uns: Diskussion war hier immer nur als von oben verordnetes Ritual zugelassen, wenn es darum ging, den einsamen Beschlüssen der Partei im Nachhinein eine pseudodemokratische Legitimation zu verschaffen. All das mag eine Rolle gespielt haben: Aber das Schweigen eines Dichters wie Volker Braun, der sich hinter seinen Gedichten wie hinter einer Brustwehr verschanzte und darüber hinaus kein Wort sprach, ist damit noch nicht hinreichend erklärt. Sein Vers: „Krieg den Hütten und Friede den Palästen“, ist mir als poetisches und politisches Fazit der Wende allzu dürftig; aber auch Volker Brauns Kollegen von der essayistischen Zunft scheint zu diesem Thema nicht viel mehr einzufalen. Bernd Leistner, Dozent am Leipziger Kulturinstitut, gab dessen Namenspatron Johannes R. Becher und dem Weimarer Minister Goethe die Schuld an der (ost)deutschen Misere; und Thomas Böhme beschwor den Geist der Utopie des in der DDR verfemten Ernst Bloch, ohne zu bedenken, daß dieser sich erst nach dem XX.Parteitag der KPdSU vom Apologeten zum Kritiker des Stalinismus gewandelt hat — ziemlich spät also. Auch das Zauberwort Ökologie hilft hier nicht weiter; überhaupt ist es mit bloßen Umbenennungen wie von SED in PDS nicht getan, solange die dahinter stehende Denk- und Organisationsstruktur unangetastet bleibt.

Wie immer, wenn viele Schiftsteller an einem Ort zusammenkommen, um über Literatur zu reden, wurden viele kluge Dinge gesagt und gute Texte gelesen, von Michael Buselmeier zum Beispiel, einem Veteran der 68er Bewegung, der in Heidelberg alternative Stadtführungen veranstaltet: Buselmeiers scheinbar flüchtig hingeworfene Gedichte atmeten jene poetische Spontaneität, die ich in den Nachdichtungen von Rainer Kirsch vergeblich suchte. Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Birgit Vanderbeke las einen an Thomas Bernhard geschulten, virtuos vorgetragenen Text, der mir trotz oder wegen seines Wortwitzes und seiner sprachlichen Perfektion ähnlich übersüßt erschien wie die Spätlesen, von denen in ihrer Geschichte die Rede war. Die autobiographische Prosa von Helga Schütz dagegen und die Gedichte von Bernd Jentzsch, 1977 nach dessen Ausbürgerung aus der DDR entstanden, hatten trotz des zeitlichen Abstands nichts von ihrer Frische eingebüßt; ebenso wenig wie Ludwig Harigs Kindheitserinnerungen an die Nazizeit, die zugleich eine Reise ins Innere der Wörter sind, und Rainer Schedlinskis subtiler Essay über die Mauer als Inbegriff der verbotenen Stadt, die zwar jeder kennt, deren öffentliche Erwähnung aber tabu ist. Literarischer Höhepunkt der Tagung war, neben Martin Walsers rhetorisch brillantem Plädoyer für die Wiedervereinigung, das mit einer Absage ans publizistische Ritual des Meinungsstreits gekoppelt war, eine Erzählung von Wolfgang Hilbig, die von leeren Flaschen handelte. Unter Spinnweben und Staub im Keller scheinen sich die leeren Flaschen, Kopf an Bauch auf den Regalen liegend, in einer unzüchtigen Orgie zu vermehren. Alle Versuche scheitern, der Flaschenflut Herr zu werden, die mit der jährlichen Obstschwemme wie ein Ozean das Haus umbrandet; in schlaflosen Nächten träumt der Ich-Erzähler sich dort in ein Land, wo es weder Obstgärten noch leere Flaschen gibt. Nur so, aus der Perspektive des Kellerkindes, das Wolfgang Hilbig in der DDR gewesen ist, läßt sich der Mief von vierzig Jahren stalinistischer Stagnation adäquat beschreiben: Man denkt an die Leichen im Keller des Realsozialismus, an die „Flaschen“, das heißt Duckmäuser und Versager, auf allen Ebenen der Hierarchie oder ans Entzugsdelirium eines Alkoholikers, der von leeren Flaschen träumt — mögliche Lesarten ein und derselben Geschichte.

Jenseits aller ideologischen Differenzen gab es unter den in Weimar versammelten Schriftstellern so etwas wie ein unausgesprochenes Einverständnis über jeden gelungenen Text. Hier, in der Qualität der von ihren Mitgliedern produzierten Literatur, liegt die Zukunft der beiden Autorenverbände, falls ihnen eine Zukunft bleibt, und nicht in politischer Geschaftlhuberei, mit der sich VS und SV, aus unterschiedlichen Gründen, literarisch ins Abseits manövriert haben. Mit der Kurzformel „Verbundenheit statt Verband!“ hat der Epigrammatiker Arnfried Astel dieses Dilemma auf den Begriff gebracht; der Beifall bewies, daß er vielen der Anwesenden aus dem Herzen sprach.

PS: Das Wichtigste habe ich vergessen, den Bericht von Wulf Kirsten über seine Mitarbeit im Komitee zur Auflösung der Staatssicherheit. Das paranoide Mißtrauen des Staates gegen seine Bürger, das hier zutage trat, übertraf nicht nur die wildesten Phantasien — die Stasi bespitzelte sich selbst; zugleich gab Wulf Kirsten ein praktisches Beispiel für demokratisches Engagement, das ohne ideologische Phrasen auskommt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen