Multiple Choice — ein Fragespiel

■ Thomas Brasch und Katharina Thalbach vergehen sich im Schiller-Theater an »Romeo und Julia«

Der Dichter Thomas Brasch hat sich William Shakespeares »Romeo und Julia« gegriffen, das eine oder andere Wort modernisiert und frisch gereimt und diverse Zeitgeistkalauer sowie verschiedene Polit-Pointen in Karl-Dall-Qualität inklusive Kohl-Witzen untergerührt. Ferner hat er für Katharina Thalbach eine Rolle als Assistentin des Paters hineingeschrieben und mit dieser zusammen hat er den ganzen Brei jetzt auch noch am Schiller-Theater unter dem Titel LIEBE MACHT TOD oder Das Spiel von Romeo und Julia inszeniert. Und wenn man dann auch praktischerweise das ganze gleich dreimal auf den Begriff gebracht bekommt, sozusagen also die Stückverpackung genauestens den Inhalt deklariert: Was erzählen die da eigentlich auf der Bühne? Und wozu, warum?

Vor einer hohen roten Häuserwand, die sich hinter einer Art riesigem schwarzen Buchdeckel zeigt, turnen schwarzweiß gekleidete Menschen herum oder stehen in den vielen, vielen Adventskalendertüren, die sich in allen Höhen öffnen — am liebsten alle gleichzeitig, denn dann ist Heiligabend. Warum fällt Bühnenbildnern eigentlich immer (wie schon vor zwei Jahren in der Freien Volksbühne) schwarz, weiß, rot zu diesem Thema ein? Ist die Liebe einfarbig rot? Monochrom = monogam? Warum ist Romeo, dieser verwöhnte Junge aus gutem Hause, als Eckensteher Nante verkleidet? Ist Romeo arbeitslos? Warum wohnen diese beiden mächtigen Veroneser Familien im selben Mietskasernen-Block, Tür an Tür, Feuerleiter an Feuerleiter? Little Italy in New York oder doch Zille sein Milliöh? Warum ist in den Kostümen Jahrhundertwende? Warum trägt Capulet, Julias Vater, einen Stresemannanzug nebst Vatermörder und Monokel? Hat er gerade in einem Vorort von Verona die Borsig- Werke gebaut? Warum ist Gründerzeit um 1552? Warum hat das Industriellenkind Julia um 1900 noch eine Amme? Warum braten sich Benvolio und Tybalt nebenbei harmlos eins mit der Aktentasche über? Warum wird da von Krieg und Schwertern gesprochen? Warum spielt das ganze überhaupt in Verona?

Warum ist Bruder Lorenzo nun Bruder Laurence und nicht mehr wirklich Mönch, sondern ein als Mönch verkleideter Wissenschaftler, der mit seinem Schlafgift ein Menschenexperiment macht? Warum ist er dann nicht gleich Gentechnologe? Wäre das nicht noch viel aktueller? Warum ist Pest in Verona? Damit Brasch mit der Pest-Moderne einen Kalauer-Punkt machen kann? Warum zündet der »Geist des Mercutio« Verona zum Schluß neromäßig an?

Was sind das für Proletarier, die sich für ihre Herren schlagen? Oder sind die Freunde Romeos nur als Proletarier verkleidet und doch Edelmänner oder Leibeigene? Ist kein Unterschied zwischen den erweiterten Familienverbänden der Renaissance und der dissoziierten Gesellschaft der industriellen Revolution? Sind die Machtverhältnisse zwischen Herr und Knecht, Vater und Sohn, Mann und Frau die gleichen im Feudalismus Oberitaliens und im Industriekapitalismus Preußens? Warum bringen Brasch und Thalbach diese Zeiten und grundverschiedenen Strukturen in Wort und Bild durcheinander?

Warum wird das vierzehnjährige höhere Töchterlein Julia von einer Sekunde zur anderen plötzlich zur Frau? Hat Sexualität, Erotik, Liebe keine Geschichte, keine Gesellschaft? Ist Liebe ewig? Unveränderlich? Ist es gleich, ob einer im Muff der Gründerzeit oder unter der Herrschaft der katholischen Kirche vierhundert Jahre früher verbotenerweise ein Mann über den Weg läuft? Sollen die Verbote und Tabus und entsprechend die Anziehungskräfte immer dieselben sein?

Warum dauert diese ganze Sauce dreieinhalb Stunden? Wundert's jemand, wenn die einzelnen Szenen nicht funktionieren, wenn nichts zu sagen ist? Wenn das Liebesdrama glatt und blutleer bleibt, weil alles im Ungefähren erkenntnis- und interessenlos vor sich hin spricht und kalauert? Wozu überhaupt all dies hübsche Styling, zum Beispiel mit Menschen, die malerisch mit Taschenlampen im Dunkeln wuseln — schön, schön, allein wozu nur, wozu?

Eine Anwort gibt es immerhin: Thomas Brasch wird einige Modernisierungstantiemen einstreichen. Wozu? Zur Regiegage dazu. Gabriele Riedle

LIEBE MACHT TOD oder Das Spiel von Romeo und Julia von Thomas Brasch nach William Shakespeare. Regie: Katharina Thalbach und Thomas Brasch; Bühnenbild und Kostüme: Ezio Toffolutti; Romeo: Guntbert Warns; Julia: Wiebke Frost; Susan/Bruder John: Katharina Thalbach; Bruder Laurence: Markus Völlenklee; Mercutio: Oliver Stern; Benvolio: Stefan Merki; Tybalt: Peter Lohmeyer; Amme: Sabine Orleans; Montague: Erich Schwarz; Lady Montague: Lieselotte Rau; Capuelt: Hans Teuscher; Lady Capulet: Maria Hartmann.