: An (nicht) fremden Orten
■ Lesebär 90 in Charlotterburg
»Für einen jungen Engländer war es unmöglich, sich das erste Mal in Deutschland aufzuhalten, ohne die Gastgeber vor allem für ein besiegtes Volk zu halten und Stolz über den Sieg zu verpüren.«
An einen fremden Ort schickt der britische Autor Ian McEwan seinen Romanhelden Leonard Marnham nach Berlin, wo der junge Fernmeldetechniker 1955 den Auftrag erhält, als kalter Krieger in einem Tunnel von Alt-Glienicke die Fernmeldeleitungen der Sowjets anzuzapfen. »Operation Gold« hieß das Maulswurf-Spionage-Projekt des CIA und des M16 gegen den kommunistischen Feind, das bereits nach einem Betriebsjahr durch Verrat aufflog. Seine Überreste sind bis heute zu besichtigen.
Aus seinem Roman »The Innocent/ Unschuldige« liest McEwan am Freitag in der Knesebeckstraße bei Marga Schoeller. Seine »Unschuldigen« erzählen die Geschichte der Besatzer und Schutzmächtigen aus britischer Perspektive, zeigen die Schwierigkeiten eines jungen Briten im Umgang mit den rüden Amerikanern, berichten von dessen Liebe zu einer gewitzten Berlinerin, seiner Faszination von Gefahr und mörderischen Erlebnissen in der zertrümmerten Stadt zwischen Neu-Westend, Kreuzberg 36, Berlin-Mitte und Rudow.
Die Sicht der Siegermächte auf den »fremden Ort« Berlin ist das diesjährige Motto des »Lesebär '90«. Die Veranstaltung des Berliner Verleger- und Buchhändlerverbandes hat sich im deutschen Vereinigungsjahr das Ziel gesetzt, »einen Blick über die eigenen Grenzen zu werfen und sich mit dem Deutschland-Bild ausländischer Autoren in Vergangenheit und Gegenwart vertraut zu machen«. Begeisterung weckte das Programm bei Anke Martiny, die »ohne Zögern und gern« die Lesungen, Gespräche und Podiumsdikussionen zum Thema mit einer Senatsfinanzierung kulturpolitisch belohnte. Da auch sie die Sowjetunion »cum grano salis« zur Runde alliierter Freunde zählt, deren Kulturoffiziere das kulturelle Leben Gesamt-Berlins entscheiden mitgeprägt haben, darf neben britischer Spionage-Krimi- und Liebes-Spannung am Freitag auch der russische Blick auf die Stadt nicht fehlen.
Den Literaturkennern der Neuen Fünf wohlbekannt, im Westen eher unpopulär ist das Werk der russischen Dichterin Marina Zwetajewa. Im Frauenbuchladen Lilith stellt Andrea Kleist ausgewählte Lyrik von Zwetajewa vor. Nur zweimal führte das Schicksal die 1892 in Moskau Geborene, später in Prag und Paris im Exil lebende Dichterin nach Berlin, nach Charlottenburg und auch an den Prager Platz. Doch in vielen Briefen, die sie mit Boris Pasternak, Anna Achmatowa und Rainer Maria Rilke wechselte, kehrten Berliner Momente der Emigrantin zurück.
Die beiden Lesungen in der abendlichen Knesebeckstraße wenden sich an eingeschränkte LeserInnenkreise: Die erste an Zeitgenossen, die des Oxford-Englischen mächtig sind, die zweite nur an Frauen.
Wer weder englischsprachig noch Frau ist, dem sei ein Ausflug in die Charlottenburger Schloßstraße empfohlen: In den feuchten Räumen der Weekend-Gallery lesen Christa Frontzeck und Rüdiger Krenzien BVBeV-unabhängig und nicht senatsfinaziert Berliner Prosa und Lyrik. Anläßlich der Jahresabschlußveranstaltung der Wochendgaleristen, »Fortuna 90«, bieten die beiden Autoren ihre neuesten Eindrücke, die das letzte Jahr an einem ihnen wohlbekannten Ort spiegeln.
Ian McEwan 20 Uhr in der Marga Schoeller Bücherstube, Knesebeckstr. 33, 1-12; Marina Zwetajewa: »Charlottenburg« und ausgewählte Passagen, 20 Uhr Frauenbuchladen Lilith, Knesebeckstr. 86/87, 1-12; Fortuna 90 20 Uhr in der Weekend Gallery, Schloßstr. 62, 1-19 schäf
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