: Die neuen Mitbürger gehören eben nicht „zu uns“
■ Wie Alteingesessene Neuankömmlinge auf Distanz halten/ Eine Untersuchung von Norbert Elias und John L. Scotson: „Etablierte und Außenseiter“
Im August diesen Jahres starb der Soziologe Norbert Elias im Alter von 93 Jahren. So kann er an den Diskussionen seiner Bücher, die er teilweise schon vor Jahrzehnten geschrieben hatte, und die nun nach und nach erscheinen werden, nicht mehr teilnehmen. Dies ist um so bedauerlicher, als manche dieser Untersuchungen — ungeplant, aber wirkungsvoll! — im passenden politischen Moment erscheint.
Im Herbst 1989 wurde der Band Studien über die Deutschen veröffentlicht, und gerade ist im gleichen Verlag die Übersetzung einer Studie erschienen, die Elias mit einem Schüler Ende der fünziger Jahre in einer englischen Vorortgemeinde durchgeführt hat: Etablierte und Außenseiter. Diese Studie kann helfen, ein neues Verständnis von den alltäglichen Problemen im Umgang zwischen BRD- und DDR-BürgerInnen, Einheimischen und Sinti und Roma, polnischen und rumänischen AussiedlerInnen zu gewinnen.
Die englische Originalausgabe war 1965 unter dem Titel Established and Outsiders. A Sociological Inquiry into Community Problems erschienen und ist seither nicht mehr aufgelegt worden. Nun ist erstmals (Herausgeber und Übersetzung: Michael Schröter) die deutsche Ausgabe erschienen. Sie ist ergänzt um den 1976 erstmals publizierten Text von Elias Zur Theorie von Etablierten- Außenseiter-Beziehungen, quasi der theoretische Kommentar zum empirischen Haupttext.
Elias/Scotson untersuchten eine englische Gemeinde, die sie „Winston Parva“ nannten. Auf gerade diese Gemeinde waren sie ursprünglich aufmerksam geworden, weil in ihren unterschiedlichen Ortsteilen auffällige Unterschiede in der Delinquenzrate bestanden: Die männlichen Jugendlichen eines Ortsteils, der sogenannte „Cockneykolonie“ oder „Rattengasse“ waren deutlich krimineller oder zumindest sozial auffälliger (machten mehr Randale, würde man heute sagen) als die in den anderen Ortsteilen.
Die Studie gewann jedoch eine andere Ausrichtung, von der viele gegenwärtige Untersuchungen etwas lernen könnten: Elias/Scotson interessierte weniger das Verhalten zwischen Einheimischen und Zugewanderten insgesamt und die Auswirkungen räumlicher und sozialer Mobilität auf dieses Verhältnis. Ihr Beispiel scheint zunächst viel weniger spektakulär als etwa die Überseewanderungen des 19.Jahrhunderts oder die europäischen Wanderungen der „GastarbeiterInnen“.
Es geht nur darum, daß in einem Arbeitervorort neue Arbeiterfamilien zuziehen. Die Einheimischen und die Zugewanderten unterscheiden sich weder in ihrer ethnischen noch in ihrer Schichtzugehörigkeit: beide sind britische Arbeiter, Arbeiterinnen und deren Familienangehörige. Und dennoch reagieren die Einheimischen mit unübersehbarer Abwehr: Es kommt zu einem Konflikt zwischen den beiden Gruppen, der allein darauf gegründet ist, daß die einen „die „alten“ und die anderen „die neuen Familien“ sind.
Das Verhältnis zwischen alten und neuen Familien ist für Elias/Scotson eine „Grundfiguration“ menschlicher Beziehungen: „Man kann Varianten derselben Grundfiguration, Zusammenstöße zwischen Gruppen von Neuankömmlingen, Zuwanderern, Ausländern und Gruppen von Alteingesessenen überall auf der Welt entdecken“ (S. 247).
In ihrer Untersuchung des sozialen Netzwerkes in Winston Parva stellten sie eine deutliche Hierarchie, eine „Rangordnung“ der Familien fest. In dieser Figuration sind die Einheimischen die Etablierten und die Neuankömmlinge die Außenseiter. In solche Rollen können sie nur gelangen, weil sie gegenseitig voneinander abhängig sind: Die Neuen wollen ihre Situation verbessern, die Alten ihre erhalten.
Elias betont in seinem theoretischen Kommentar, daß sich die beiden Gruppen „in der Tat nur durch ihre Wohndauer am Platz“ (S. 15) unterschieden. Die alten Familien schlossen sich, so verfeindet sie untereinander auch (gewesen) sein mochten, gegen die neuen zusammen. Sie hielten die zugereisten Familien auf Distanz, behandelten sie mit Verachtung und lehnten Kontaktversuche rigoros ab. Die Einheimischen, die im Statusgefüge der Gesamtgesellschaft keineswegs zu den Etablierten (also zu den Inhabern von Machtpositionen) gehören, steigen in der Figuration mit den Neuankömmlingen auf. Als länger ansässige und untereinander verbundene Gruppe greifen sie auf Mittel der Aus- und Abgrenzung zurück: Klatsch, Diffamierung, üble Nachrede, Globalurteile. Damit sollen die Neuankömmlinge auf Distanz gehalten und ihr eigener Status abgesichert oder aufgewertet werden. Die Gruppenorientierung wird dabei immer rigider, der Gruppenglaube starrer: Elias spricht vom Gruppencharisma, das die Etablierte(re)n sich selbst zuweisen, und als Pendant dazu von der Gruppenschande, das sie den Fremden oder Außenseitern zuweisen.
Die Studie von Elias/Scotson weist darauf hin, daß das Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit für viele Konflikte keine ausreichende Erklärung bietet. Die länger Ansässigen (und dieser „Vorsprung“ kann auch nur wenige Jahre betragen) schotten sich immer gegen Neue ab. Diese gelten als nicht zugehörig, als weniger „nett“. Sie werden nicht in die Wir-Identität miteinbezogen — unabhängig, ob es ethnische oder „rassische“ Unterschiede gibt. Gibt es sie zusätzlich, so erleichtert das den Einheimischen nur die Abwehr: Sie werden sich bei der Begründung nicht mehr so sehr auf den Faktor neu, sondern auf den Faktor Ausländer/Fremde stützen.
Solche Kriterien haben den unschätzbaren Vorzug, daß sie häufig besonders gut wahrnehmbar sind. Eigentlich ist dies zur Abwehr jedoch gar nicht „notwendig“. Die Bedeutung des Wir-Gefühls, das gegen die Zugewanderten mobilisiert wird, ließ sich bei der Abwehr gegen die ÜbersiedlerInnen aus der DDR beobachten: Hier gab und gibt es eine auffällige Einigkeit zwischen konservativen und progressiven „Kräften“. Die einen bangen um Wohnungen und Arbeitsplätze, die anderen fürchten eine Stärkung des konservativen Blocks bei der bevorstehenden Bundestagswahl...
Ebenso schlossen unterschiedliche Gruppen von Zugewanderten aufgrund des Kriteriums einer zeitlich früher liegenden Zuwanderung in der Bundesrepublik gegeneinander die Reihen — oder versuchten es zumindest: italienische gegen türkische Einwander, ehemalige Gastarbeite gegen DDR-Flüchtlinge, Übersiedler aus der DDR gegen solche aus Polen, Aussiedler gegen Spätaussiedler.
Dies erfolgt(e) in der Hoffnung, durch eine Abgrenzung die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft zu demonstrieren — was aber immer weniger funktioniert, wie die Anfeindungen und Überfälle auf Ausländer in Ost-Berlin und der bisherigen DDR zeigen. In deren Augen zählt das Kriterium „Deutschsein“ mehr als das der Langansässigkeit. Anette Treibel
Norbert Elias/John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter , Frankfurt/M., 1990, Suhrkamp, 314 Seiten, 38,00 D-Mark.
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