„Die Gleichbehandlung ist ein Menschenrecht“

■ Der Schwulenparagraph 175 StGB soll abgeschafft werden/ Die taz sprach mit dem Frankfurter Sexualwissenschaftler Martin Dannecker

Die christliberale Regierung in Bonn will den Paragraphen 175 StGB abschaffen. Dazu führte die seit der deutschen Vereinigung geteilte Rechtslage („Tatortprinzip“) — so sieht es zumindest die FDP. Der 175er verschwindet nicht ersatzlos, das „Schutzalter“ wird für Heteros und Homos auf 16 Jahre festgelegt werden.

taz: Kam die am Mittwoch angekündigte Abschaffung auch überraschend für Sie?

Dannecker: Ja, das kam sehr überraschend. Denn die letzten Diskussionen die ich mit Politikern hatte, die deuteten überhaupt nicht darauf hin. Da gab es nur Breiiges von der SPD und der FDP und doch entschiedenen Widerstand von der CSU. Die CDU war völlig unentschlossen. Ich habe allerdings schon gedacht, daß es schwer sein würde, hinter die Rechtslage der DDR zurückzufallen.

Der Paragraph wird nicht ersatzlos gestrichen, die Schutzaltersgrenze wird für Jungen und Mädchen bei 16 Jahren liegen. Was ist davon zu halten?

Das überrascht nicht, denn wir hatten ja durch fast alle Lager eine riesige Debatte zur Verführung und zur sexuellen Gewalt. Das ist ein Nachgeben in dieser Hinsicht. Ich finde 16 Jahre als absolute Schutzgrenze doch etwas spät. Mir erscheinen 14 Jahre angemessener. Ich denke, mit 14 sind die allermeisten Jugendlichen soweit, daß ihr sexuelles Objekt bewußt konturiert ist. Sie sind dann auch bereit und fähig, sexuelle Interessen zu artikulieren und sexuelle Wünsche, die von anderen artikuliert werden, auch zurückzuweisen. Und was Gewalt angeht — da gibt es ja entsprechende Paragraphen.

Der neue Jugendschutztatbestand soll als Offizialdelikt angelegt sein. Die Behörden werden also nicht nur auf Antrag ermitteln, sie sollen zur Ermittlung verpflichtet sein.

Für Heterosexuelle ist das ein Rückfall, denn zwischen 14 und 16 war das bislang ein Antragsdelikt. Der staatliche Eingriff in die Sexualität von Jugendlichen wird damit ausgedehnt, um zwei Jahre nach oben verschoben.

Jährlich gab es, was den Paragraphen 175 angeht, etwa 120 Verurteilungen. Welche Rolle hat der Paragraph überhaupt noch gespielt?

Es gab 120 Verurteilungen — aber dahinter standen immer rund 500 Ermittlungen, die man dazudenken muß. Denn die Ermittlung ist ja bereits eine Diskriminierung, wobei der Begriff Diskriminierung nicht ausreicht, das ist Schande, ganz unmittelbar. Darüber hinaus hatte der Paragraph eine große indirekte Bedeutung für die Auseinandersetzung zwischen Eltern und Jugendlichen im homosexuellen Coming-out. Die Existenz des Paragraphen hat die Haltung immer wieder bestärkt, daß homosexuelle Handlungen einfach unrichtig und falsch sein müssen. Ein Fall, den ich kenne, macht das ganz deutlich. Da ging es um einen siebzehnjährigen Jungen in einem Internat, der eine Beziehung zu einem über 18jährigen hatte. Das kam heraus, und der Internatsleiter hat die Mutter des Siebzehnjährigen mit dem Verweis auf den Paragraphen 175 unter massiven Druck gesetzt, den Freund ihres Sohnes anzuzeigen. Das ist ein Fall, den ich kenne, aber von dieser Sorte Fälle wird es mehrere geben. Man schätzt die Bedeutung des Paragraphen viel zu klein ein, wenn man nur die Ermittlungen und die Verurteilungen betrachtet.

Welche Rolle spielt der 175er in bezug auf die Krankheit Aids?

Diese Bedeutung ist immer wieder betont worden. Ich habe es aber politisch stets abgelehnt, Aids hierbei zu instrumentalisieren. Denn die Gleichbehandlung von Homo- und Heterosexuellen ist ein Menschenrecht. Den Rekurs auf Aids fand ich schief, das war eine Hilfskonstruktion. Allerdings muß man sagen, daß der Paragraph die Herausbildung der homosexuellen Persönlichkeit erschwert, was gleichzeitig heißt, daß auch die notwendige Aids-Prävention erschwert wird.

Die Abschaffung des Paragraphen in der DDR 1988 beruhte auf einer klaren Integrationsstrategie. Schätzen Sie das jetzt auch so ein?

Die Abschaffung ist die Bedingung der Möglichkeit, die Integration weiter voranzutreiben. Das ist objektiv so, und das ist ja immer die Dialektik aller auf Emanzipation ausgerichteten Politik der Homosexuellen. Auch wenn Emanzipation gemeint war, wurde dadurch immer ein Stück Integration vorangebracht. Weil wir gerade beim Stichwort Aids waren: Ich denke, alles, was im Zusammenhang mit Aids geschieht, das ist, was Integration angeht, viel bedeutsamer.

Sind die geplanten Regelungen nach Ihrer Einschätzung ein Fortschritt?

Das Streichen der Homosexualität in diesem Zusammenhang ist ein Fortschritt: Gleichbehandlung durch Nichterwähnung. Jetzt können die Debatten über den Jugendschutz für alle geführt werden, gleich ob homo- oder heterosexuell.

Wird es denn neue Debatten geben, etwa wegen der Heraufsetzung des Schutzalters bei Mädchen?

Das wird so nicht hingenommen werden. Es wird zu einer größeren Debatte kommen über die Notwendigkeit des Schutzes der Jugend vor — ja in diesem Fall kann man es nur so sagen — vor Sexualität. Interview: H.-H. Kotte