Abschiebung droht: Roma besetzen Kirche

 ■ Aus Tübingen Mathias Richter

Keine Almosen, sondern vier bis acht Jahre Abschiebestopp, „um hier zu leben und zu arbeiten, bis die Lage in unseren Heimatländern sich normalisiert hat“, verlangen die derzeit 270 Roma, die in der Tübinger Stiftskirche Zuflucht gesucht haben. Am Heiligen Abend waren die ersten 150 von ihnen aus verschiedenen Regionen Baden-Württembergs in das Gotteshaus geflüchtet und baten um den Schutz der Kirche vor drohender Abschiebung. Seitdem werden es täglich mehr. Trotz zahlreicher Spenden aus der Bevölkerung und dem Engagement einer rund um die Uhr arbeitenden Unterstützergruppe wird die Lage im nur mäßig geheizten Kirchenschiff immer schwieriger. Erkältungskrankheiten und vor allem die hygienischen Verhältnisse machen den Kirchenbewohnern, darunter vielen Kindern, zu schaffen. Das baden-württembergische Innenministerium sieht derweil keinen Grund für Verhandlungen. „Nur weil die eine Kirche besetzen, können wir nicht von der Befolgung unserer Gesetze absehen“, so Friedrich Gackenholz, Leiter des Ausländer- und Asylreferats.

Als Form der Wiedergutmachung der Deportationspolitik im Nazi- Deutschland will hingegen Jasir Demirov, Vorsitzender der „Union Roma Baden-Württemberg/BRD“, die Erfüllung ihrer Forderung verstanden wissen, sein Volk „diesmal nicht wieder abzutransportieren“. Im Falle einer Abschiebung, so die Befürchtung der aus Jugoslawien, Rumänien und der CSFR stammenden Roma müßten sie mit Diskriminierungen und Verfolgung rechnen. Gewalttätige Angriffe seien dort an der Tagesordnung.

Die Chancen, ein generelles Bleiberecht für Roma durchzusetzen, stehen jedoch schlecht. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende und Tübinger Bundestagsabgeordnete Herta Däubler-Gmelin sieht augenblicklich als einzige Möglichkeit eine Massenpetition an den Stuttgarter Landtag. Zumindest bis zur Entscheidung darüber wollen die Sozialdemokraten einen Abschiebestopp erreichen. Wie diese Entscheidung ausfallen wird, darüber dürften aufgrund der CDU-Mehrheit im Petitionsausschuß allerdings kaum Illusionen bestehen.

Indessen scheinen die Kirchenvertreter ihre anfängliche Position zu überdenken. In einer ersten Stellungnahme hatte der Kirchengemeinderat das Anliegen der unvorhergesehenen Weihnachtsgäste unterstützt und den Stuttgarter Innenminister Dietmar Schlee zu einem Gnadenakt aufgefordert. Am Silvesterabend hingegen stellte Dekan Heiner Küenzlen unmißverständlich klar, daß die „Kirchenbesetzung“ nicht unbefristet andauern könne. Sollte der Dekan von seinem Hausrecht Gebrauch machen, erwägen die Romafamilien, die befürchten müssen, beim Verlassen des Gotteshauses festgenommen und unverzüglich abgeschoben zu werden, einen Hungerstreik.