: »Totalverweigerung bester Weg«
■ Evangelische Jugendliche aus Berlin zu Zwangsdiensten und Totalverweigerung/ Der Zivildienst ist keine Alternative, weil er in den Wehrdienst eingebunden ist DOKUMENTATION
Aufgrund der Einführung der bundesdeutschen Wehrpflicht in West-Berlin beschließt der Gemeindejugendrat der evangelischen Kirchengemeinde Wannsee entsprechend dem Friedensauftrag der Kirche, den Totalverweigerern durch Zurverfügungstellung ihrer Räume Unterstützung zu bieten. Der Jugendgemeinderat unterstützt damit die entsprechende Aufforderung der Jugendsynode vom 16. September 1990. [...]
Die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht ist mit dem Friedensauftrag der Kirche, unter anderem deutlich gemacht in der Bergpredigt, nicht vereinbar. »Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.« (Mt 5,9) »Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.« (Mt 5,39) »Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.« (Mt 5,44) [...]
Der Krieg, als Mittel internationale Konflikte auszutragen, hat seine Bedeutung verloren. An seine Stelle sind die politische und wirtschaftliche Auseindersetzung getreten [...] Die Rechtfertigung, der Friede in Europa in den letzten 40 Jahren sei durch Armeen erreicht worden, ist nicht belegbar. Wäre es in der Tat so, so wäre dies ein Armutszeugnis für Europa. [...]
Der zivile Ersatzdienst erfüllt nicht die an ihn gestellten Anforderungen. Er ist (in einzelnen Fällen unterschiedlich stark) in den Wehrdienst eingebunden. Das wird deutlich durch die gemeinsame Musterung, durch strukturelle Abhängigkeiten und die prinzipielle Einsetzbarkeit auch im militärischen Bereich (zum Beispiel als Sanitäter) nach Beendigung des Zivildienstes. Zivildienst und Wehrdienst sind nicht gleichberechtigt. 95 Prozent aller Zivildienstleistenden, aber nur rund 60 Prozent aller Wehrdienstleistenden werden nach der Musterung tatsächlich einberufen [...]
Die Begründung, die längere Dauer des Zivildienstes würde durch Reservistenübungen ausgeglichen, erscheint uns fadenscheinig und wird durch die Praxis nicht bestätigt. Das legt die Vermutung nahe, daß das Besetzen von Stellen im Sozialbereich mit »billigen« Zivildienstleistenden im Vordergrund steht. Dies ist aus unserer Sicht nicht zu verantworten. Zivildienstleistende sind unausgebildete Arbeitskräfte, so daß ihre Tätigkeit mit Risiken für sie und die zu betreuenden Personen behaftet ist. Zivildienstleistende sind möglicherweise in besonderer Weise unmotiviert, was ebenfalls erhebliche Risiken birgt. Der Staat sollte unserer Meinung nach durch entsprechende Entlohnung das soziale System in Deutschland sichern. [...]
Die Illegalität der Totalverweigerung ist für uns nur bedingt ein Hinderungsgrund. In einer Demokratie muß es möglich sein, auch bestehende Gesetze in Frage zu stellen. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß nicht alles, was im Sinne des Gesetzes ist, auch moralischen Wertvorstellungen genügen muß. Auch werden vom Gesetzgeber verabschiedete Gesetze im nachhinein für ungültig erklärt. [...]
Der Prozeß zur Diskussion und langfristig zur Beseitigung der bestehenden Mißstände muß in Gang gesetzt werden. Zur Zeit ist Totalverweigerung die Ausnahme von der Regel und gesellschaftlich geächtet. Aber auch der Zivildienst hat anfangs im Abseits gestanden, wurde durch viele Diskussionen und immer mehr Zivildienstleistende ins öffentliche Interesse gedrückt und ist heute von der Gesellschaft akzeptiert. Unsere Hoffnung ist, daß die Totalverweigerung eine ähnliche Dynamik entwickelt.
Die Kirche ist schon der die christlicher Substanz betreffenden Thematik wegen aufgerufen, sich zu äußern. Wenn die Kirche glaubwürdig sein will, darf sie sich aber nicht auf [...] Lippenbekenntnisse beschränken. Sie muß vielmehr zum Handeln bereit sein, auch wenn Opfer von ihr verlangt werden. [...] Unseren Protest gegen das bestehende Wehrdienst-/Ersatzsystem können wir weder innerhalb des Wehrdienstes noch durch Wehrdienstverweigerung zum Ausdruck bringen. Deshalb ist für uns der bestmögliche Weg die Totalverweigerung.
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