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Stasi-Spitzel Wolfgang Schnur wieder hoffähig

Berlin (taz) — Länger als ein Vierteljahrhundert hat Rechtsanwalt Wolfgang Schnur an die Stasi verraten, was und wer zu verraten war. Im März vergangenen Jahres entdeckten Rostocker Bürgerkomitees 33 Aktenordner des Informellen Mitarbeiters „Torsten“ alias „Dr. Schirmer“ alias Wolfgang Schnur. Knapp zehn Monate nach dem abrupten Ende seiner politischen Karriere an der Seite von Helmut Kohl hat Schnur es wieder geschafft. Beruflich wie moralisch. In dem von der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ übernommenen Ostberliner Blatt 'Neue Zeit‘ konnte Schnur sich gestern seinen Ärger von der Seele quatschen, „daß man bisher immer nur wirkliche oder vermeintliche Informanten der Stasi verantwortlich zu machen sucht“, während „den Verursachern, die auf der anderen Seite des Schreibtisches saßen, kein Haar gekrümmt werde“.

Diese Aussage aus dem Mund eines Mannes, der im April gegenüber dem 'Stern‘ stolz gestand: „Für die in meinem Hintergrund war ich der Topmann“, ist atemberaubend. Sie indiziert den Sinneswandel der konservativen Presse, die für eine nie gekannte Generosität gegenüber der Stasi-Vergangenheit von Politikern außerhalb der PDS wirbt. Kein Wort verliert die 'Neue Zeit‘ über Schnurs konkrete Spitzelaktivitäten. Statt dessen die Leier: „Er war viel im Dienste der Kirche tätig und arbeitete in der Gruppe ,Frieden konkret‘ mit, einer zunächst lockeren Plattform für die kirchlichen Menschenrechts-, Friedens- und Ökogruppen, die später eine Art Netzwerk wurde. Auf dem Gründungsparteitag des ,Demokratischen Aufbruch‘ wurde Wolfgang Schnur zum ersten Vorsitzenden gewählt.“

Zur Erinnerung: Schnur wurde in der Abteilung XX des MfS, zuständig für die Bespitzelung und Zersetzung kirchlicher und oppositioneller Gruppen, geführt. Protegiert von der Stasi, machte er eine Traumkarriere als Anwalt, kassierte von der Stasi, (möglicherweise verratenen) Mandanten und der Bundesregierung. Als Mitglied der Landessynode Mecklenburg lieferte er unablässig Berichte, zuletzt etwa einmal die Woche. Nach dem Dresdener Gespräch zur Gründung des Demokratischen Aufbruchs (DA) im August 1989 verabredete Schnur stracks ein dringendes Treffen mit der Stasi. Das DA-Statut läßt er von seiner Führung absegnen. Noch bis in den November 1989 offerierte Ordensträger Schnur Informationen. Drei Wochen nach Abgabe des letzten Dossiers posierte der damalige DA-Chef mit Kohl für die Tagesschau.

Nach seinem politischen Absturz kündigte er an: „Im Moment verzichte ich auf einen politischen Weg, weil man ja selber innerlich zu sich finden muß, das heißt aber noch lange nicht ade, die Politik ist vorbei.“ Im Januar wird Schnur erst mal in einer Anwaltspraxis unmittelbar am Westberliner Kurfürstendamm einziehen: „In Zeiten der Unsicherheit wolle er Menschen zu mehr Sicherheit verhelfen“, läßt der neue Experte für Zivilrecht verbreiten. The times, they are changing — und die Zeichen der 'Neuen Zeit‘ eindeutig. Petra Bornhöft

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