: Noch kein Präsidialregime in Lettland
■ Lettische Politiker nach Unterredung mit Gorbatschow zufrieden/ Jelzin warnt vor totalitärer Wende/ Schatalin: Gorbatschow hat vor den schwarzen Obristen kapituliert/ EG-Initiative?
Moskau/Riga (dpa/taz) — Der sowjetische Präsident Gorbatschow hat am Dienstag in Moskau zweieinhalb Stunden lang mit dem Präsidenten Lettlands, Gorbunows, und dem Ministerpräsidenten, Godmanis, verhandelt. Nach dem Treffen soll Gorbatschow Berichte über die bevorstehende Einführung des direkten Präsidialregimes über Lettland zurückgewiesen haben. Der Sprecher der Vertretung Lettlands in Moskau, Aris Jansons, zitierte Gorbatschow mit den Worten: „Das Gerede über die Einführung der Präsidialverwaltung entbehrt jeder Grundlage.“ Gorbunows selbst ließ über seinen Sprecher verlauten, er habe „einen sehr positiven Eindruck“ vom Verlauf der Gespräche. Gorbatschow habe sich über die Lage in Lettland besorgt gezeigt und die „Konfliktparteien“ dazu aufgerufen, „auf ihre Ambitionen zu verzichten, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen“.
Die Äußerungen der lettischen Politiker dementieren die vom Vorsitzenden des „Ethik“-Ausschusses des Obersten Sowjets, Anatoli Denissow, lancierte These, bei dem Gespräch würde es nur noch um die Modalitäten gehen, die das Eingreifen der Militärs und die Einführung des Präsidialregimes für das Parlament und die Regierung Lettlands erträglich machen könnten. Denissow, der von einer Erkundungstour nach Riga zurückgekehrt war, hatte außerdem verbreitet, die lettische Führung sei im Prinzip mit dem Präsidialregime einverstanden, eine Behauptung, die ebenfalls von lettischer Seite zurückgewiesen wurde.
Mit knapper Mehrheit ist im Obersten Sowjet der russischen Föderation ein von Boris Jelzin mitverfaßter Resolutionsentwurf im ersten Anlauf gescheitert, der das Vorgehen sowjetischer Truppen im Baltikum verurteilte und eine offizielle Untersuchung der „Tragödie von Vilnius“ forderte. Zu Beginn der Sitzung hatte Jelzin vor einer Entwicklung der Sowjetunion „hin zu einem totalitären Regime“ gewarnt. Die „reaktionäre Wende“ müsse aufgehalten, die Beziehungen zwischen den Republiken und der Zentrale sowie die Kompetenzen beider müßten endlich klar bestimmt werden. Die Mehrzahl der Diskussionsredner machten Verteidigungsminister Jasow und Innenminister Pugo unmittelbar, Gorbatschow mittelbar für die Todesopfer in den baltischen Staaten verantwortlich. Die Resolution wurde zur Überarbeitung einer Kommission überwiesen und wird bis spätestens Donnerstag dem Parlament wiedervorgelegt.
Ein weiterer prominenter Liberaler, der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Berater Gorbatschows, Schatalin, hat Gorbatschow vorgeworfen, vor den „schwarzen Obristen“ kapituliert zu haben. Die Wirtschaftspolitik des Präsidenten sei eine Fiktion, ein Hirngespinst. Schatalin in der 'Komsomolskaja Prawda‘ vom Dienstag: „Die tieferen Wurzeln all unserer Probleme [...] liegen in der totalitären kommunistischen Ideologie.“ Schatalin beschwor Gorbatschow, die Fronten zu wechseln und sich dem „linkszentristischen Block“ anzuschließen. Die Außenminister Englands und Frankreichs sind übereingekommen, eine gemeinsame Initiative gegenüber Moskau mit dem Ziel zu starten, „einen Ausweg aus der Krise im Baltikum zu finden“. Der Sprecher des französischen Außenamtes, Bernard, verurteilte die Gewaltanwendung durch die Sowjetunion in den baltischen Staaten. Bernard schlug vor, die „Mechanismen der KSZE“ für die Überprüfung von Menschenrechtsverletzungen in Gang zu setzen.
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