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„Überall herrscht Trauer und auch Angst“

■ taz-Gespräch mit dem Abgeordneten Mehmet Ali Eren über die türkische Politik gegenüber den Kurden INTERVIEW

taz: Wie fanden Sie die Stadt Tatvan vor nach den tödlichen Schüssen der Polizei auf kurdische Antikriegsdemonstranten?

Mehmet Ali Eren: Nach den Ereignissen bin ich nach Tatvan gereist. Überall auf der Welt gibt es Antikriegsdemonstrationen, die Menschen machen von ihren demokratischen Rechten Gebrauch. Doch wenn in der Türkei, die unmittelbar in Kriegsgefahr schwebt, die Bevölkerung protestiert, reagiert der Staat erbarmungslos. Ich habe mit vielen Menschen geredet. Nach dem Freitagsgebet haben die Menschen eine Demonstration gebildet. Sie haben „Nein zum Krieg“, „Nieder mit den USA“ gerufen. Die Sicherheitskräfte haben das Feuer auf die Demonstranten eröffnet. Tausende Kugeln sind abgefeuert worden. Sie haben aus Tatvan ein Schlachtfeld gemacht.

In den Krankenhäusern liegen Verletzte. Bei dem Einsatz der Sicherheitskräfte wurde Mecit Kaplan getötet. Der Kommissar, der Mecit Kaplan auf dem Gewissen hat, ist stadtbekannt. Viele in Tatvan können ihn identifizieren. Nach dem Autopsiebericht wird endgültig klar sein, daß Kugeln der Sicherheitskräfte Kaplan töteten. Die Demonstranten hatten ohnehin keine Waffen. Sie haben den Schußwaffeneinsatz nur mit Steinwürfen beantwortet. Ich war am Samstag auf der Beerdigung von Kaplan. Die ganze Stadt hat sich an dem Trauerzug beteiligt. In der Bevölkerung herrscht Panik. Siebzig Menschen sind verhaftet worden.

Es wird berichtet, daß kurdische Dörfer und Stellungen entlang der irakisch-türkischen Grenze bombardiert werden. Verfügen sie über Informationen?

Auf das Cudi-Massiv und in der Nähe von Eruh innerhalb türkischer Grenzen sind Bomben abgeworfen worden. Ob auf Dörfer und Siedlungen Bomben fielen, läßt sich bis heute mit Sicherheit nicht sagen. Hier herrscht Trauer und Angst. Aus Angst verlassen die Menschen die Region. Silopi ähnelt einer Geisterstadt.

Die Geschäfte sind zu, es sind keine Menschen auf der Straße. Die Dörfer in Grenznähe wurden evakuiert. Der Staat zerstört die bestellten Felder. Augenzeugen berichten auch, daß jenseits der Grenze im Nordirak kurdische Zivilisten bombardiert wurden.

Das türkische Kabinett will dem Parlament in Kürze eine Gesetzesvorlage einreichen, die das Gesetz, welches die kurdische Sprache verbietet, aufhebt. Warum wird gerade heute so etwas von der Regierung angekündigt?

Dieses Gesetz war eine Schande. Wir haben mehrere Versuche gestartet, es aufzuheben. Immer wurden wir abgeschmettert. Nun lanciert die Regierung in der Öffentlichkeit, daß sie etwas Großartiges tut. Doch das Recht der Menschen, ihre Muttersprache zu sprechen, ist ein Menschenrecht.

Werden denn kurdische Zeitungen erscheinen können?

Da gibt es noch die Verbotsverfügungen in der Verfassung. Auch die Verfassung müßte geändert werden.

Glauben Sie denn daran, daß es vor dem Ende des Golfkrise zu einer Änderung der gegenwärtigen Politik kommt?

Ich glaube nicht. Zum einen sagt ja die Regierung, daß sie nicht scharf auf den Nordirak ist. Zum anderen sagt plötzlich Özal, daß die Kurden im Nordirak unter seinem Schutz stehen. Da wird man hellhörig. Da steckt Kalkül hinter. Wieso traut man sich nicht, den Kurden ihre Rechte zu gewähren? Eine Neuordnung, die nicht der freien Entscheidung und den Bedürfnissen des kurdischen Volkes entspricht, ist keine Lösung. Die Forderungen des kurdischen Volkes stehen an allererster Stelle. Eine Lösung kann es nur mit dem kurdischen Volk geben, nicht mit dunklen Kalkülen Özals. Interview: Ömer Erzeren

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