: MIlitarisieren wir uns?
■ Der Pazifismus braucht absolute Unparteilichkeit
Es ist das erste Mal, daß der Krieg machtvoll in die alltägliche Erfahrung vom Millionen Menschen unter 45 Jahren eintritt; er wird so zu einem Faktum der individuellen Kultur wie des Gemeinsinns. Das hat tiefgreifende, wahrscheinlich irreversible Effekte und modifiziert die Perspektiven jeder Lebensplanung. Auch wenn der Großteil der Bürger seine Lebensgewohnheiten und seinen Rhythmus um keinen Deut geändert hat. Die Veränderungen geschehen auf anderen Ebenen, weniger sichtbar, die Auswirkungen zeigen sich erst langfristig.
Dennoch kann man schon jetzt etwas dafür tun, die Schäden zu begrenzen, vor allem, um die — offenbar unwiderstehliche — Tendenz zur Militarisierung des Gemeinsinns und die Martialisierung der Alltagssprache aufzuhalten. Dazu muß man freilich den Pazifismus stärken und rationaler machen, um ihm mehr Wirkung zu verschaffen. Der Pazifismus in Italien ist meines Erachtens nicht — wie ihm vorgeworfen wird — zu abstrakt, unpolitisch, irrealistisch. Allerdings läßt er sich leicht einseitig einspannen, ist hypersensibel gegenüber vergossenem Blut, nimmt aber Gesetzesverletzungen nur unzureichend wahr (tatsächlich hat man nach dem 2. August nicht ausreichend gegen die irakische Invasion in Kuwait protestiert). Um seine Glaubwürdigkeit und sein Ansehen zu wahren, muß der Pazifismus absolut sein, und ein prinzipieller Pazifismus braucht absolute Unparteilichkeit und Sensibilität. Dann aber kann er den Antipazifismus zum Schweigen bringen und ihm seine — tatsächlich meist recht unglaubwürdigen — Argumente entwinden. Speziell die Gleichsetzung von Pazifisten mit Defätisten, die in Demonstrationen eine Art feindlicher Infiltration zur Entmoralisierung des Heeres sieht („Greiner“, „Opferlamm-Komplex“). Als könne eine Demokratie in Kriegszeiten extreme Einstellungen zu extremen Fragen nicht aushalten. Das Niveau einer Demokratie erkennt man gerade in Notstandssituationen — wo denn sonst?
Angesichts eines Krieges bekommt der Nichtpolitiker eine fundamentale Rolle, die sich auf die Erfahrungen und Erwartungen der großen Mehrheit der Menschen bezieht. Wenn auch der Pazifismus diesen Krieg ebensowenig wie künftige Kriege aufzuhalten vermag, so kann er vielleicht doch die Militarisierung des Friedens und die Martialisierung der sozialen Beziehungen, die Aufrüstung der Alltagssprache verhindern — genau das, was die Antipazifisten mit ihrem Kampf gegen das radikale Friedensengagement versuchen. Luigi Manconi
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