Lieber eine Null-betr.: "Appease now" (Das Menetakel der Geschichte) von Jörg Friedrich, taz vom 2.2.91

betr.: „Appease now“ (Das Menetekel der Geschichte) von Jörg Friedrich, taz vom 2.2.91

„Die Vernichtungswütigen und die Nullen“: In diesem Sinne bleibe ich in bestem Einvernehmen mit mir selbst viel lieber eine Null, ehe ich mich von einer solchen Kriegspropaganda aus einer Handvoll zusammengesammelter Daten aus dem Leistungskurs Geschichte, die sich als Argumentation verkauft, an die Front kommandieren lasse! Klaus Mahler, West-Berlin

[...] Hitlers Kriegspolitik ist nur durch die dumme Appeasementpolitik der späteren Alliierten des Zweiten Weltkrieges verursacht worden. Deshalb ist es Friedrich auch möglich, einen ganzen Essay über Ursachen jenes Krieges und Hitlers Taktik zu schreiben und mit keinem Wort den organisierten Massenmord in den KZs zu erwähnen.

Nett, daß er immerhin von der in Polen „rasenden SS“ spricht, welche dort Ghettos „eröffnete“. Ob bei diesen „Eröffnungen“ wohl Sekt gereicht wurde? Und wir wollen dem Autor des Essays nicht ganz unrecht tun: Er zieht die Holocaust-Toten von den zehn Millionen Ziviltoten und den 11,9 Millionen Militärtoten ab. Schöne Rechnung. Bei all diesen Toten waren ja jene „kampfbesessenen Individuen“ ebenfalls zu dumm, daß sie — isolierte Minderheit, die sie waren — Widerstand leisteten und dann eben von der Gestapo „zur Strecke gebracht“ wurden.

Mit dieser wunderbaren Parabel will der Historiker, der es ja wissen muß, uns wahrscheinlich den Zaunpfahl ins Auge drücken, nicht wahr? Wie gut, daß die Amerikaner den Krieg begonnen haben gegen Saddam Hussein! Daß dieser ein vom Westen emporgebrachter und bis vor kurzem mit allen Mitteln unterstützter Diktator ist, Hitler aber von einer Mehrzahl der Deutschen gewählt worden ist, tut hier nichts zur Sache...

Die Friedensbewegungen aber sind „Nullen“, die nichts kapiert haben, die nichts gelernt haben aus der Geschichte: Denn es ist der Pazifismus, der schon immer für Kriege verantwortlich war und ist, oder? Odile Kennel, West-Berlin

Daß die Pazifisten an Auschwitz schuld seien, mußten sich schon die Gegner der Nato-Hochrüstung anhören. Jetzt benutzt es Jörg Friedrich, um die LeserInnen der taz kriegsfreudig zu stimmen. Er zeichnet als „Historiker“, um seine Ansichten seriös erscheinen zu lassen. Er argumentiert jedoch keineswegs wissenschaftlich, sondern es spekuliert. Jörg Friedrich belastet die staatliche Appeasementpolitik der dreißiger Jahre mit den Millionen Opfern, die der Zweite Weltkrieg gekostet hat, weil man nicht gleich losgeschlagen habe. Zweifellos ist die Appeasementpolitik gescheitert, aber das moralische Schuldenkonto ist vergleichsweise gering. Es besteht darin, daß Hitler den Krieg, den er schon 1938 wollte, erst 1939 bekommen hat. Daß der Krieg, wäre er ein Jahr früher ausgebrochen, weniger verlustreich gewesen wäre, ist eine Spekulation, die an US-amerikanische Szenarien vor Ausbruch des Golfkrieges erinnert, nach denen der Krieg in 24 Stunden gewonnen sein würde.

Wenn es im übrigen nach der Anti-Kriegsbewegung der zwanziger und dreißiger Jahre gegangen wäre, hätte man Hitler die Macht erst gar nicht übertragen: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Und wenn es nach der Friedensbewegung heute gegangen wäre, wäre der Irak gar nicht erst kriegsfähig geworden. Aber die Appeaser von gestern sind die Aufrüster von heute. Das Ende des Kalten Krieges hat den heißen wieder möglich gemacht. Bush, der den Krieg wollte, träumt den Traum einer pax americana. Die Sowjetunion unterstützt die USA, um ihr eigenes Haus wieder in Ordnung zu bringen und auf diese Weise die Voraussetzung zu schaffen, wieder als weltpolitischer Konkurrent der USA auftreten zu können. China hält sich raus, um das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in aller Ruhe juristisch abzuwickeln. Kuwait ist lediglich Vorwand und Anlaß, der nächste Krieg schon programmiert. In dieser Situation die Menschen auf den Krieg einzustimmen, heißt, ihnen die nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal mehrheitsfähig gewordene Friedenssehnsucht auszutreiben, um sie für weitere Abenteuer verfügbar zu machen. Jörg Friedrichs Elaborat ist für ihn dennoch nicht ganz nutzlos: Er kann es als Talentprobe bei einer Bewerbung für einen Job in dem noch zu schaffenden Bundespropagandaministerium verwenden. Frank Dingel, West-Berlin

[...] Jeder, der über das politische Leben der Zwischenkriegszeit halbwegs informiert ist, weiß, daß der Pazifismus jener Zeit keineswegs unumstrittene Mehrheitsauffassung war. Ihm standen ein starker Militarismus und Nationalismus im konservativen und eine verbreitete revolutionäre Militanz im linken Lager gegenüber. [...]

Keine der Behauptungen hält auch nur einer oberflächlichen Überprüfung stand. Das „Maginotdenken“ der Militärs war eine Folge des bekannten Faktums, das vor allem siegreiche Generäle immer in den Kategorien des letzten Krieges denken. Die Maginotlinie war eine High- tech-Version der Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Frankreich besaß mehr Panzer als das Reich, setzte sie aber nicht als selbständige Verbände ein, sondern (wie in den Offensiven in Flandern 1917/18) als mobile Artillerie zur Infanterieunterstützung. Die Briten besaßen mehr (und bessere) Jäger als das Reich und setzten sie erfolgreich und eindrucksvoll in der „Battle of Britain“ ein.

Weiterhin werden die „Appeaser“ als unfähige und feige Diplomaten dargestellt, die kein anderes Ziel hatten, als Kriegsvermeidung, um dem Pazifismus der Bevölkerung genüge zu tun.

Auch hier wird von den politischen Bedingungen der Zwischenkriegszeit vollständig abstrahiert. Hintergrund der Appeasementpolitik waren die weitgehenden Sympathien überwiegend konservativer Kreise für den Nationalsozialismus, der nicht nur scheinbar einen Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise gefunden hatte, sondern auch mit Gewerkschaften, Arbeiterparteien und Pazifisten in einer Weise umging, die diesen Leuten ausgesprochen gut gefiel. Das „absolute Böse“ dieser Zeit war eben nicht Hitler oder der Nationalsozialismus, sondern die sozialistisch/kommunistische Gefahr.

Dies wurde besonders klar in München, wo es vor allem darum ging, die Isolation der UdSSR aufrechtzuerhalten (die ihre Unterstützung der Garantien für die CSR angeboten hatte). Das gleiche gilt für die de-facto-Unterstützung Francos durch England im spanischen Bürgerkrieg (Blockade, die deutsche und italienische Waffenlieferungen und Truppentransporte unbehelligt ließ), ebenso für die Verschleppung der Verhandlungen mit der UdSSR im Herbst 1939, die schließlich zum Hitler-Stalin-Pakt führte (was im übrigen den Pakt selbst nicht entschuldigt).

[...] Offensichtlich betreibt Herr Friedrich auf Kosten der 100.000 verfolgten und ermordeten Pazifisten, die sich seit 1933 konsequent für eine Ächtung und Islolierung Hitlers eingesetzt haben, Propaganda für den gegenwärtigen militärischen Irrsinn.

Übrigens kann man wirklich ein paar Parallelen ziehen: Die „naiven“ Pazifisten haben die Aufrüstung der Region, ebenso wie die Gewaltmaßnahmen der Regime des mittleren Ostens zu einer Zeit angeklagt, als der „eigentliche“ Gegner der Iran beziehungsweise der „Weltkommunismus“ war und die Kollaboration mit Militarisierung und Völkermord als „Realpolitik“ galt. Heute wie damals sind sie die Sündenböcke der Hau-druff-Politiker und ihrer „wissenschaftlichen“ Hofschreiber. Erhard Sanio, West-Berlin