Mit schwarzer Milch aus den roten Zahlen

Im Selbstbedienungsladen EG wird abgeräumt: Subventionsbetrügereien, Umleitung von Strukturhilfen, Abgabenhinterziehung und Grundstücksspekulation/ Böse Zungen behaupten, die Europäische Gemeinschaft würde von der Mafia dirigiert  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

„Hier baut Europa.“ Eingeklemmt zwischen zwei zerfallenen Häusern trotzt das blaue Plakat mit den zwölf Sternen Staub und Lärm einer Baustelle wahrlich europäischen Ausmaßes. Wohl zur Warnung der Passanten und ehemaligen Bewohner des Europa-Viertels um den Place Schuman hatten es die Brüsseler Stadtväter anbringen lassen. Denn so mega- gigantisch die Bürosilos und Sitzungshallen sind, die zur Verstärkung des schon existierenden Gebäudekomplexes des Europäischen Parlaments hochgezogen werden, so gewaltig ist auch die dadurch ausgelöste Bodenspekulation — mit stadtplanerisch verheerenden Folgen. Zwar hatten die zwölf Regierungschefs 1981 beschlossen, daß kein Land weitere Gebäude für europäische Institutionen errichten lassen solle, bis eine endgültige Entscheidung über den Sitz des Europaparlaments getroffen sei. Dennoch investieren die beiden Hauptkonkurrenten Straßburg und Brüssel weiter Unsummen. Mindestens eine Milliarde D-Mark läßt es sich die belgische Hauptstadt kosten, die elsässische Metropole beim Wettlauf um den Titel „Hauptstadt Europas“ auszustechen.

Europaparlamentarier im Europarausch

Im Europarausch lieferten die Stadtpolitiker entgegen dem von ihnen selbst beschlossenen Bebauungsplan Dutzende alter Häuser der Abrißbirne aus — mit Duldung der Mehrheit der Europaparlamentarier. Daß dabei weit mehr abgerissen wurde, als für den noch immer nicht von den Regierungschefs genehmigten Ausbau des Europaparlaments nötig war, haben sie einer Gruppe stadtbekannter Baulöwen, Spekulanten und Politiker zu verdanken. Ein ganzer Bahnhof muß daran glauben, um die Gewinngier dieser Stadtmafia zu befriedigen, die schon große Teile der Brüsseler Innenstadt auf dem Gewissen hat. Mit bewährten Tricks schusterten sie sich die Eigentumsrechte der Grundstücke im Europa-Viertel zu, auf der jetzt die Brüsseler Bürofläche mit einem Schlag verdoppelt werden soll. Deshalb setzten sie außerdem durch, daß der letztes Jahr erlassene Mietenstopp in Brüssel nicht für Büroräume gilt. Fazit: Das (illegale) Geschäft mit Europa blüht.

Dies ist allerdings nicht nur in Brüssel die „goldene“ Regel: Wo immer es im EG-Subventionsdschungel etwas abzuräumen gibt, sind die Gentlemengangster zur Stelle. Runde sechs Milliarden D-Mark oder zehn Prozent des EG- Haushalts werden auf diese Weise jährlich umverteilt. Böse Zungen behaupten bereits, nicht Ministerrat und Kommission, sondern die Mafia würde die EG dirigieren.

Regieren Gangster von der Mafia die EG?

Daß diese zumindest von der EG profitiert, ist unbestritten. Schließlich helfen noch immer eine Reihe europäischer Banken beim „Waschen“ des Drogengeldes. Außerdem dienen die Milliarden aus den Agrar-, Sozial- und Strukturfonds der EG, mit denen die weniger entwickelten Gebiete vor allem im Süden der Gemeinschaft aufgepäppelt werden sollen, den Mafiosis als stete Einnahmequelle. Nicht umsonst dominieren sie (nicht mehr nur im Süden) die Bauwirtschaft, die sich an den von der EG bezahlten Infrastrukturmaßnahmen gesundstößt. Traditionsbewußt sind sie auch in der Landwirtschaft tätig. Zwar sind die Zeiten vorbei, als unter mafioser Obhut sizilianisches Zuckerwasser als Wein deklariert nach Frankreich verscherbelt wurde. Doch noch immer, so schätzt die EG-Verwaltung, wandern zehn bis fünfzehn Prozent der im Rahmen der EG-Agrarpolitik nach Sizilien gezahlten Gelder (1987 runde 400 Millionen D-Mark) in die Taschen der „Patrones“. Daß die schier unerschöpflichen EG- Pfründe regelrecht zu Betrug „ermuntern“, dies ist für den Präsidenten der Oberfinanzdirektion Kiel, Svend Olav Hansen, eine alltägliche Erfahrung. Zum Beispiel die „EG- Milchgarantiemengenverordnung“! Sie verleite Bauern und Meiereien in Schleswig-Holstein zur „Abgabenhinterziehung“, wie es auf amtsdeutsch so kunstvoll heißt. Doch auch die holländischen und irischen Bauern sind mit dieser Methode zur Einkommensverbesserung vertraut:

Schwarze Geschäfte mit weißer Flüssigkeit

Zur Eindämmung der enormen Überproduktion bei Milch und Milcherzeugnissen hatte die EG 1984 eine Milchsteuer eingeführt, die anfällt, wenn die erteilte Milchquote überschritten wird. „Erhebliche kriminelle Energie“ bescheinigt Hansen den Bauern und Unternehmern, wenn es darum geht, „Bewilligungsbescheide“ zu fälschen, um die Quoten zu erhöhen. Wenn es bei der Milch nicht mit rechten Dingen zugeht, warum dann bei der Züchtung von Jungbullen, der Stillegung von Ackerflächen oder der Gewährung von Exportsubventionen. Wie sie mit schwarzer Milch aus den roten Zahlen kommen, machten letztes Jahr 170 holländische Großbauern vor. Auch in diesem Fall ging es um Milch von Kühen, die sich nicht an die ihnen zugeteilten Quoten halten. Was einfacher, als die Milch, die zuviel produziert worden ist, zu exportieren. Dabei spart der Bauer die Überproduktionssteuer und verdient noch drei Pfennige extra pro Liter. So rollten dann mindestens 300 Tonnen Milch täglich über die Grenzen nach Belgien, Frankreich und Spanien. Licht in die schwarzen Geschäfte mit der weißen Flüssigkeit zu bringen, ist für den Direktor des Königlich-Niederländischen Milchbüros, Eppo Bolhuis, ein mühsames Geschäft. „Wir können doch nicht jeden einzelnen Lastwagen kontrollieren“.

Wie man aus französischem Weizen deutschen macht

Ähnlich argumentieren die Zollfander in Hamburg. Vor knapp zwei Jahren wurden sie Zeugen eines bei Großexporteuren beliebten Subventionsbetrugs. Während am einen Ende des Frachters „Kapitän Danilkin“ französischer Weizen ausgeladen wurde, waren die Dockarbeiter am anderen Ende damit beschäftigt, den selben Weizen wieder einzuladen. Schließlich war er nicht für deutsche, sondern für sowjetische Mägen bestimmt. Grund für diese umständliche Aktion: ein Zugewinn von 25 D-Mark pro Tonne.

Diese Summe zahlte die EG in dieser Zeit deutschen Exporteuren zusätzlich zur EG-normalen Exportsubvention von 150 D-Mark pro Tonne, denn die bundesdeutschen Bauern hatten wieder einmal zuviel produziert. Der Zwischenstopp diente also der lukrativen Verwandlung französischen in deutschen Weizen. Beliebt bei Absahnern verschiedenster Fa¿on sind auch die Entwicklungsgelder. Was man schon immer vermutete, bestätigte der EG-Rechnungshof im Dezember in seinem Jahresbericht: „Die EG- Entwicklungshilfe an Staaten der dritten Welt ist oft unwirksam“. Weniger als die Hälfte der direkten Lebensmittelhilfe habe die ärmsten Bevölkerungschichten erreicht. Der größte Teil komme den reicheren Familien in den Städten sowie den Beamten des öffentlichen Dienstes in den Entwicklungsländern zugute. So habe die Kommission beispielweise 10,4 Millionen D-Mark an Bangladesh überwiesen, ohne einen konkreten Verwendungszweck festzulegen. Der lockere Umgang mit den Millionen hat nämlich einen anderen Zweck — er soll den europäischen Entwicklungsbeamten die Arbeit erleichtern: Deren wichtigste Aufgabe ist es, die einmal bewilligten Gelder auszugeben, weil sonst die Gefahr besteht, daß ihr Budget beschnitten wird. Weil die Entwicklungsgelder jedoch meist zu langsam abfließen, ist ein regelrechter Wettbewerb unter den zuständigen Kommissionmitarbeitern ausgebrochen.

Auch in der EG wäscht eine Hand die andere

Aufsteigen kann nur, wer beim wahllosen Geldausgeben die Nase vorne hat. Und wenn schon alle Beteiligten von dem Geschäft mit Europa profitieren, dann wollen die Oberkontrolleure — die Richter im EG-Rechnungshof in Luxemburg — auch was davon abbekommen: In den letzten Jahren kam es dort zum Eklat, weil sich die Richter aus politischem Größenwahn mit Personal eingedeckt hatten, für das sie überhaupt keine Verwendung hatten — und deshalb für private Dienste einsetzten.

Fazit: Das uralte Gesetz, „eine Hand wäscht die andere“, kommt auch in der EG voll zur Geltung. Weil Regierungen, Parlament, Kommission und Gerichtshöfe korrumpiert sind, bleiben die kleinen und großen Betrügereien meist unter der schweren Decke der Eurokratie verborgen. Wenn doch mal ein Skandal aufgedeckt wird, dann raschelt es im Medienwald, und einige Politiker beeilen sich, hartes Durchgreifen zu geloben. Der neueste Clou: Eine Antibetrugspolizei soll gegründet werden, ausgestattet mit modernsten Hilfsgeräten. In Zukunft wird dem Bauern bei der Arbeit ein Satellit über die Schulter schauen. „Big brother is watching you.“