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Eine Amerikanerin in Berlin

Es ist kein Geheimnis, daß ich diese Kolumne auf englisch schreibe und die fleißigen und geduligen Mitarbeiter der taz sie dann immer ins Deutsche übertragen. Nach jahrelangem Faulenzen habe ich jetzt beschlossen, endlich Deutsch zu lernen, und einige der kleinen Erlebnisse auf diesem langen Weg möchte ich gerne weitergeben. In der ersten Stunde stellte mir mein Lehrer die Aufgabe, eine Sprachkassette zu kaufen, mit deren Hilfe ich meine Aussprache korrigieren soll. Solche Kassetten gibt es für alle möglichen Sprachen. Die spanische Version heißt zum Beispiel „Fun in Spanish“, die italienische „Italian made easy“, die deutsche dagegen „How to pronounce German correctly“.

Was ich schon längst fragen wollte: Warum wird hier eigentlich der Schnee nicht mehr weggeräumt? Ich bin jetzt fast eine Woche hier, und überall sind die Gehsteige noch voller Schnee — selbst auf dem Kudamm. Nach ein paar Tagen bildeten sich immer mehr nette kleine Eisbrücken, und als das Wetter Mitte der Woche etwas wärmer wurde, verwandelte sich alles in einen einzigen Schlamm. Ist das nicht sehr merkwürdig — in einem Land, wo sonst kaum ein Bonbonpapier auf der Straße liegt und in den Bussen kein Kaugummi auf dem Sitz klebt? Der Platz an der Gedächtniskirche ist inzwischen zu einer einzigen Eisbahn geworden — oder versucht etwa die ganze Nation, Selbstmord zu begehen? Möglicherweise ist das der Lemming-Instinkt der Deutschen. Und alles nur, weil nicht genug Sand oder Kies da ist. Dabei weiß ich genau, daß es in Deutschland Sand und Kies gibt — schließlich wurde eine Menge davon im Zweiten Weltkrieg für den Bau der Autobahnen herumgeschaufelt. Oder sollte das eine Verschwörung der Linken sein, um den alten Schuldkomplex endlich abzubauen?

Ist es eigentlich schon jemandem aufgefallen, daß überall in der Stadt gemischtrassige Zigarettenwerbung an den Plakatwänden klebt? Eines ist sicher: In Amerika wäre das ein Ding der Unmöglichkeit. Abgesehen davon, daß Werbung für Zigaretten verboten ist (das Rauchen wird immer mehr zu einem schweren Verbrechen in den USA) — eine weiße Frau zusammen mit einem schwarzen... Alles klar?

Wen hat Bellocchio eigentlich in der letzten Zeit gefickt? In seinem neuen Film La Condanna, der vorgibt, sich mit dem Unterschied zwischen Sex und Vergewaltigung zu befassen, scheinen die Frauen keine Ahnung davon zu haben, was ihre sexuellen Auslöser sind, sie quengeln wie Kleinkinder, wenn sie nicht kriegen, was sie wollen, und zerren die Männer vor Gericht, wenn sie es dann doch kriegen. Was Bellocchios Männer betrifft, so glaubte der eine, daß man Frauen nur mit Gewalt zum Sex kriegen kann (und daß sie nur unter solchen Bedingungen zum Orgasmus kommen), während der andere offenbar noch nie etwas von sexuellen Phantasien gehört hat und ohne schriftliche Genehmigung seines Beichtvaters nie eine Frau auch nur berühren würde. Der Film kommt zu dem Schluß, daß Frauen für Männer, die ihnen nicht ihre Erektion aufdrängen, nur Verachtung übrig haben, und für die, die es doch tun, nur Haß aufbringen können. Das klingt ganz so, als sei Bellocchio insgeheim immer noch sauer auf seine Mutti und noch bei der kindlichen Erkenntnis stehengeblieben, daß Frauen irrationale Wesen sind.

Ein oder zwei (Millionen) Stufen höher auf der Leiter des intellektuellen Anspruchs ist der Film Paris is burning (Paris brennt) angesiedelt, Jennie Livingstones wundervolle Dokumentation über die Transvestitenkultur von Schwarzen und Latinos in New York. Als Filmstudentin an der New York University lernte Livingstone im Washington Park das Phänomen des „Vogue-ing“ kennen (dabei werden die stilisierten Posen der Modephotographie in einen dynamischen Tanzstil umgesetzt) und folgte den Männern, die diese neue Kunstform praktizieren, in ihren Alltag und auf ihre Underground-Bälle. In Paris brennt wechseln sich Interviewpassagen mit absolut schrägen Camp- Szenen ab. Es ist selten, daß in einem Dokumentarfilm die Menschen, die den Gegenstand des Films bilden, mit soviel Einfühlsamkeit, Würde und Witz portätiert werden. Das gilt noch mehr für diese Männer, die von ihrer eigenen ethnischen Gruppe verstoßen werden, weil sie schwul sind, und von der weißen Schwulen-Szene, weil sie braune oder schwarze Haut haben.

Es ist erfreulich, daß Livingstone keinen Versuch macht, in plumpe Politik oder filmische Manipulation zu verfallen. Am meisten beeindruckt war ich davon, wie es diesen Burschen gelingt, die in Amerika herrschenden politischen Theorien von einer Unterdrückung durch die Medien zu unterlaufen und ad absurdum zu führen. Diese „politisch korrekte“ Auffassung geht nämlich davon aus, daß die Menschen das, was sie in den Medien vorgesetzt bekommen, nachahmen und übernehmen. Wenn Modemagazine also nur reiche Weiße zeigen, dann diskriminieren sie damit die armen Schwarzen. Nicht so die „Voguers“. Sie tun das, was die meisten Menschen tun, und was alle diese vermeintlich radikalen Theorien in der Regel nicht erfassen: Sie haben sich die herrschenden Vorstellungen und Bilder von Mode und Reichtum für ihre eigenen Zwecke angeeignet. Sie kleiden sich in Kostüme, bei denen die Chefin von 'Vogue' vor Neid erblassen würde, und sie fühlen sich einfach toll dabei. Wie einer der „Voguers“ erklärt, ziehen sie es vor, nicht zu saufen oder zu fixen, sondern verwenden alle ihre Energien darauf, sich immer neue Kostüme zu nähen und Feste zu veranstalten. Ob wir nicht alle viel besser dran wären, wenn mehr Menschen so denken und handeln würden? Marcia Pally

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Hans Harbort

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