: Not und Tugend
■ Bundesregierung und Atomwirtschaft beglücken Ostdeutschland mit zwei neuen AKWs
Not und Tugend Bundesregierung und Atomwirtschaft beglücken Ostdeutschland mit zwei neuen AKWs
Aus der Not eine Tugend machen — darin war die Atomlobby in diesem Lande immer schon ganz groß. Der Beinahe-GAU in Harrisburg geriet ihr zum Nachweis, daß selbst eine Kernschmelze „beherrschbar“ sei. Die Katastrophe von Tschernobyl ließ die deutschen Supermeiler aus dem Hause Siemens in um so strahlenderem Lichte leuchten. Die drohende Klimakatastrophe liefert das zentrale Argument für die Renaissance der Atomenergie-Konjunktur. Zuletzt sollte selbst der Krieg in der Ölregion als Auslöser für den weiteren Ausbau der Atomenergie herhalten.
Der wenig überraschende Marsch nach Osten setzt die Tradition auf besonders perfide Art und Weise fort: Aus der Not einer schier endlosen Auftragsflaute wird nun flugs die Tugend einer altruistischen Hilfe für die immer noch armen Brüder und Schwestern im Osten. Angesichts des anhaltenden Einbruchs bei der Stromnachfrage in Ostdeutschland steht das Standardargument für neue Atommeiler diesmal nicht zur Verfügung: Die Lichter gehen nicht aus. Die Stromversorgung in den neuen Ländern ist sicherer, als sie es in der DDR je war. Der rabiate Strukturwandel der Industrie wird dafür sorgen, daß der Stromverbrauch auf Dauer stagniert. Vor der Jahrhundertwende wird der Stand des Jahres 1989 wohl nicht wieder erreicht — selbst dann nicht, wenn Politik und Industrie sich weiter weigern, Stromsparstrategien ernsthaft zu verfolgen. Freilich, es geht auch um Arbeitsplätze. Aber kaum um die in den neuen Ländern, sondern um die, die im Westen gefährdet sind, weil Reaktorbauer und Stromkonzerne sich nicht rasch genug auf neuen Feldern abseits der ungeliebten Atomenergie umgetan haben.
Was also „bringt“ die Entscheidung für neue Meiler im Osten den Ostlern? Sie bringt ihnen einen „ausgewogenen Energiemix“, sagt Möllemann. Das wird die Betroffenen freuen. Der Grundlast-Energieträger Braunkohle konkurriert künftig mit dem Grundlast-Energieträger Uran. In der Tat gibt es gegenwärtig in der ehemaligen DDR eine sehr einseitige Stromgewinnung aus Braunkohle. Das wird für einige wenige Jahre so bleiben, bis das Ostnetz an das westeuropäische angeschlossen sein wird. Dieser Prozeß wird längst abgeschlossen sein, wenn die jetzt beschlossenen Meiler wirklich einmal in Betrieb gehen, wenn sie das Genehmigungsverfahren überstehen, wenn die Welt bis dahin von weiteren schweren Unfällen verschont bleibt.
Ganz nebenbei schreibt die Bundesregierung bei ihrem Schulterschluß mit der Atomindustrie die Teilung bewußt oder unbewußt noch einmal fest. Der unausgewogene Energiemix, der den Herren in den Führungsetagen der Industrie und des Wirtschaftsministeriums angeblich so schwer im Magen liegt, endet exakt an der ehemaligen deutsch- deutschen Grenze. Hat eigentlich schon mal jemand ausgerechnet, wie wunderbar ausgewogen die Mischung wird, wenn Ost und West zusammengerechnet werden? Gerd Rosenkranz
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