Tödlicher Sturz liegt im dunkeln

■ Mordprozeß gegen Mutter, die ihre vierjährige Tochter vom Balkon gestürzt haben soll

Moabit. Daß Bierflaschen und Müll aus den Fenstern und von den Balkonen geworfen werden, gehört in dem Hochhaus Celsiusstraße 56 in Süd-Steglitz zur Tagesordnung. Aber am Abend des 21. Juni vergangenen Jahres schepperte es im Hof besonders schlimm: Irland kämpfte— via TV — gegen die Niederlande um die Fußballweltmeisterschaft. Doch das dumpf klatschende Geräusch, das eine Bewohnerin des achten Stockes gegen 23 Uhr aus dem Halbschlaf riß, war keine zerberstende Bierflasche. Es war Folge des Sturzes eines vierjährigen Mädchens vom Balkon im neunten Stock auf das Vordach der Eingangstür. Die kleine Tatjana überlebte den Sturz in 27 Meter Tiefe nicht. Sie starb vier Tage später im Krankenhaus.

Seit gestern steht Tatjanas Mutter, die 27jährige Martina B., wegen Mordes vor der Gericht. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt die zierliche Frau, das schlafende Kind über die Balkonbrüstung in die Tiefe geworfen zu haben. Als Tatmotiv nimmt sie an, daß Martina B. ihren Lebenspartner und Vater des Kindes, Bernd G., bestrafen wollte, weil dieser ihre Liebe verschmähte. Die arbeitslose Verkäuferin schweigt vor Gericht. Die Beweismittel in diesem Indizienprozeß sind dürftig, so daß ein Schuldspruch am Ende des mehrtägigen Prozesses fraglich ist.

Bei den polizeilichen Vernehmungen, die gestern von zwei Kriminalbeamtinnen rekapituliert wurden, hatte Martina B. zunächst von einem Unfall gesprochen. Als sie und Bernd G. schliefen, so vermutete sie damals, sei das Kind aufgewacht, zum Balkon gelaufen, habe einen Tisch an die Brüstung geschoben und sei hinuntergestürzt. Später hatte Martina B. diese Aussage widerrufen und Bernd G. beschuldigt, Tatjana in die Tiefe geworfen zu haben. Danach hatte die Staatsanwaltschaft auch gegen den 39jährigen Einrichter ermittelt, das Verfahren aber nach kurzer Zeit eingestellt.

Was in jener Nacht wirklich in der Wohnung von Bernd G. passiert ist liegt im dunkeln. Fest steht nur, daß sich Bernd G. sechs Wochen vor dem Tod des Kindes von Martina B. getrennt hatte — gegen den Willen der Frau, die bereits wieder von ihm schwanger war. Bei der Polizei hatte Martina B. ausgesagt, daß es am 21.Juni zu einer erneuten Aussprache in der Wohnung gekommen war, Bernd G. aber weiter auf der Trennung bestanden habe. Obwohl sie bereits nicht mehr in der Wohnung gewohnt habe, sei sie in jener Nacht dort geblieben. Ihr Versuch, sich Bernd G. zärtlich zu nähern, sei zurückgewiesen worden. Auch wenn die Trennung für sie sehr schmerzhaft gewesen sei, so Martina B. bei der Polizei, sei sie damit einverstanden gewesen, daß Tatjana bei ihrem Vater leben sollte.

Bernd G. erklärte gestern vor Gericht, daß Martina B. ihn in der Nacht des 21. Juni erneut erfolglos »bearbeitete«, wieder bei ihm einziehen zu dürfen. Martina B.s Annäherungsversuche habe er — »das bringt nichts« — zurückgewiesen und sei sogleich eingeschlafen. Gegen 23 Uhr, so Bernd G., habe ihn Martina B. geweckt: »Tajana ist auf dem Balkon.« Er sei sofort zur Brüstung gerannt und habe das Kind »in der Tiefe liegen sehen«.

Bernd G. hatte damals die Kripo informiert, nachdem Tatjana ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Er erklärte dies gestern damit, daß ihm angesichts dessen, daß im Blumenkasten auf der Balkonbrüstung keine Blume geknickt war, der Verdacht gekommen sei, daß Tatanja über die Brüstung gehoben und in die Tiefe geworfen worden sei.

Die unbeschädigten Blumen sind das einzige Beweismittel der Staatsanwaltschaft dafür, daß ein Unfall mit großer Wahrscheinlichkeit ausscheidet. Die einzigen Zeugen, die in jener lauten Fernseh-Fußball-Nacht etwas gehörte haben wollen, sind die Eheleute V. aus dem achten Stock. Frau V. sagte gestern aus, sie habe gegen 23 Uhr über sich Kinderschritte trappeln hören, dann auf dem Balkon ein scharrendes Geräusch und einen dumpfen Aufprall vernommen. Ihr Ehemann sprach demgegenüber von zwei verschiedenen Schrittarten wie von »leichten Personen«. Den »festen Schritt« von Bernd G. habe er darin nicht erkannt. Der Prozeß wird am Donnerstag fortgesetzt. plu