: Brasilien: Kosmetische Korrektur in Rios Favelas
„Rocinha“: Lateinamerikas größtes Elendsviertel wird für UN-Umweltkonferenz herausgeputzt/ Wiederaufforstung der Tropenwälder in über 60 Slums geplant/ Am dringendsten ist die Kanalisierung von Abwässern und der Ausbau der Infrastruktur ■ Von Astrid Prange
Rio de Janeiro — „Geh hin, mein armer Bruder aus dem Elendsviertel, begrabe deine Toten und errichte neue Holzverschläge, bis ein Unwetter sie wieder die steilen Hänge herrunterfegt. Der nächste Karneval, bei dem du dein schlammiges Schicksal vergessen kannst, kommt bestimmt.“
Mit dieser sarkastischen Hymne verfluchte im Jahre 1966 der brasilianische Dichter und Diplomat Vinicius de Morais das Elend der Favela- Bewohner. 25 Jahre später hat sich am „schlammigen Schicksal“ der armen Bevölkerung Rio de Janeiros nichts geändert. Knapp ein Drittel der Einwohner der Sechs-Millionen- Metropole haust in Elendsvierteln oder auf der Straße.
Allein innerhalb der letzten neun Jahre ist die Zahl der Favelas in der Stadt von 340 auf 545 angestiegen. Nach Angaben des Instituts für Städteplanung (Iplan) in Rio wohnen zur Zeit über eine Million Menschen in den Armenvierteln, die die grünen Hügel der Stadt überziehen. Hinzu kommen rund 600.000 Bettler, die mit ihren Familien unter Brücken hausen.
Wie groß die Wohnungsnot am Zuckerhut ist, bekam der neu gewählte Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Leonel Brizola, gleich am ersten Tag nach seinem Amtsantritt am 15. März dieses Jahres zu spüren: Zweitausend Favela- Bewohner stürmten und besetzten im Stadtteil Jacarépagua eine Häuseranlage mit 980 Eigentumswohnugnen, die seit acht Jahren leerstanden. Doch der Traum währte nur einen Monat.
Am vergangenen Freitag (12.4) ließ der sozialdemokratische Gouverneur das Gelände mit Polizeigewalt räumen. Die enttäuschten Favelados, denen er zu Beginn der Besetzung sogar die Enteignung der leerstehenden Wohnungen in Aussicht gestellt hatte, vertröstete er mit vagen Versprechungen.
Während die Hausbesetzer in Rio aus Rache gegen den Räumungsbefehl die Luxuswohnungen plünderten und sich mit Steinen gegen die anrückenden Polizisten wehrten, schlug Brizolas Umweltsekretär Roberto D'Avila dem UNO-Generalsekretär Maurice Strong in Genf vor, die Stadt Rio in ein „Labor für Umwelt- und Sozialpolitik“ zu verwandeln. Maurica Strong, verantwortlich für die Planung der UNO-Umweltkonferenz „Eco 92“ im Juni 1992 in Rio, war von der Idee begeistert.
Strong versprach seinem brasilianischen Besucher, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um die für die Einrichtung des „Labors“ notwendigen zwei Milliarden Dollar zusammenzubekommen. Saniert werden soll von diesem Geld nicht nur die verschmutzte Bucht von Guanabara, sondern auch zahlreiche Vororte in der Baixada Fluminense und die beiden beinahe zusammengewachsenen Favelas „Vidigal“ und „Rocinha“ in der Südzone der Stadt. „Rocinha“, mit rund 250.000 Einwohnern die größte Favela Südamerikas, gehört zu den „reichen“ Armensiedlungen von Rio.
Über 3.000 Geschäfte streiten sich dort um die Gunst der Bewohner, zu denen mittlerweile auch viele Angehörige der Mittelschicht zählen. Die Infrastruktur ist mit zwölf Kindergärten, drei öffentlichen Schulen, drei Polizeirevieren, einer Post- und Bankfiliale, Sportvereinen sowie unzähligen Bars beinahe komplett. Weil kaum noch freies Bauland vorhanden ist, schießen die unverputzten Steinhütten bis zu vier oder fünf Stockwerke in die Höhe.
Bei Mietpreisen bis zu 300 Mark— dies entspricht ungefähr drei brasilianischen Mindestlöhnen — für ein 50 Quadratmeter großes Apartment ist das Wohnen in der Nobel-Favela für viele zu einem kühnen Traum geworden.
Die Urbanisierung von „Rocinha“ und „Vidigal“, zu der die Kanalisierung von Abwässern, Asphaltierung von Treppenaufgängen und den wichtigsten Straßen, Strom, Wasser, Schulen, Kinderkrippen und Wiederbegrünung gehören, hat demnach zwei entscheidende Vorteile: Zum einen ist die gröbste Arbeit schon getan, und zum anderen liegen die beiden Armenviertel direkt an der Straße zum Kongreßzentrum, wo die UNO-Umweltkonferenz „Eco Rio“ stattfindet.
Im Gegensatz zu den Mammutprojekten des Bundesstaats unterhält die Stadtverwaltung Rios zur Zeit Baustellen in 16 Armenvierteln. Am dringendsten ist die Kanalisierung von Abwässern: Nur 78 der über 500 Favelas sind an ein zentrales Netz angeschlossen, von der Behandlung der Abwässer ganz zu schweigen. In siebzig Prozent der Slums wird der Müll nicht gesammelt, sondern verbrannt. Strom und Wasser stehen über der Hälfte der Favelas zur Verfügung.
Neben den Maßnahmen zur Verbesserung der grundlegenden Infrastruktur ist bis 1993 die Wiederaufforstung der Tropenwälder in 66 Slums geplant. Durch die Bepflanzung der Hügel sollen sowohl das Wachstum der Favelas als auch die Erdrutsche, die bei starken Regenfällen die unbefestigten Hütten den Hang hinunterreißen, eingedämmt werden. Die Finanzierung des Projekts wird wahrscheinlich die Stadt Stockholm übernehmen, wo 1972 die erste UNO-Umweltkonferenz veranstaltet wurde.
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