: Wohnung? Da kann ja jeder kommen!
■ Eine Frau, drei kleine Kinder und viele, unendlich viele Ämter: Eine — subjektiv erzählte — Berliner Geschichte über Obdachlosigkeit und Kinderkriegen/ Eine Odyssee ohne Ende durch alle möglichen Behörden und Stadtteile
»Warum bringen Sie denn noch auch ein drittes Kind zur Welt?« — mehr als einmal hat Manuela L. * diese leicht vorwurfsvolle Frage von Sachbearbeitern auf verschiedenen Ämtern schon gehört. »Am Schluß habe ich mich das dann manchmal fast selbst gefragt«, sagt die 28jährige. Aber nein, abtreiben, das sei für sie völlig ausgeschlossen. »Wie hätte ich das denn der Ältesten erklären sollen?« Die Älteste, das ist Michaela, fünf Jahre alt. Dann gibt es noch Markus, zweieinhalb, und nun seit sieben Monaten Manuel. Der Vater der drei ist momentan verschollen, zusammen mit ihrer Mutter sind die Kinder seit Monaten obdachlos und leben illegal in einer Charlottenburger Wohnung, die offiziell auf eine Verwandte läuft. So lange, bis die Hausverwaltung dahinterkommt...
Eine kleine Rückblende
»Ich war ein naives Dummerchen«, sagt Manuela L. über sich selbst. Mit Ämtern, Gelddingen und staatlichen Leistungen hatte sich die gelernte Altenpflegerin nie befaßt. Dafür sorgte der Mann. Doch der geriet nach sechs Jahren Zusammenleben — Klein Manuel war schon unterwegs — plötzlich in eine Krise, begann zu trinken, zahlte Rechnungen nicht mehr. Manuela verließ daraufhin im vergangenen Sommer mit den beiden Kindern für zwei Wochen die Tiergartener Wohnung und zog zu ihren Eltern nach Spandau. Mit gemischten Gefühlen, denn der Kontakt zu ihrem Elternhaus sei immer schwierig gewesen, sagt sie.
Deshalb wollte sie auch bald schon zurück. Doch in Tiergarten fand sie den Lebensgefährten nicht mehr vor, die Wohnung war wegen hoher Schulden geräumt und versiegelt. Manuela, Michaela und Markus standen plötzlich mittellos und ohne Papiere auf der Straße. Eine Freundin — ebenfalls mit Mann und Nachwuchs — nahm Mutter und Kinder schließlich in ihrer Weddinger Wohnung auf.
Manuela, die auf keinen Fall durchgefüttert werden wollte, ging aufs zuständige Tiergartener Jugendamt. »Ich hatte große Angst, daß man mir als Obdachloser die Kinder wegnimmt.« Doch dort fand man »keine Akten über meinen Fall«. Eine Wohnung habe sie in Tiergarten ja auch nicht mehr und überhaupt wohne sie jetzt ja in Wedding. Brav ging Manuela daraufhin — die Kinder immer im Schlepptau — in Wedding aufs Amt. Die Sachbearbeiter dort wiederum stellten als erstes fest, daß Manuela ja überhaupt keine Weddingerin sei.
Die gute Freundin erbarmte sich: Manuela durfte sich und die Kleinen trotz der Notaufnahme in der kleinen Wohnung anmelden. Wieder ein Amtsbesuch. Aber: Ohne Untermietvertrag läuft gar nichts. Wieder ein Amtsbesuch: Nee, so ein Untermietvertrag reicht nicht für Mietanteilübernahme, meinte eine andere Sachbearbeiterin. Da muß die Hausverwaltung selbst zustimmen.
Da könnte ja jeder kommen...
Dann brauchten die Kinder einen Krankenschein. Also wieder aufs Amt. Nee, einfach so geht das nicht. Manuela sollte nun beweisen, daß sie und die Kleinen nicht bei einer Kasse versichert sind, sonst könne per Sozialhilferecht kein Krankenschein ausgegeben werden. Wie beweisen? Negativbescheide von Kassen einholen. Erneute Besuche auf Ämtern. Stundenlanges Sitzen in verrauchten Wartekorridoren wurde für die Kleinfamilie zunehmend zum Alltag.
Und überhaupt: Wo waren die Geburtsurkunden? Pech: Mit allen anderen Habseligkeiten aus der Wohnung geräumt. Eine Verwaltungsfirma hatte alles unter Beschlag, ein Zugriff wäre nur per Anwalt möglich gewesen. Wer obdachlos ist, braucht einen Wohnberechtigungsschein. Wer zudem Kinder hat, einen mit Dringlichkeit. Wer aber einen solchen WBS haben will, braucht beispielsweise Lohnsteuerkarten. Das gilt auch für Hochschwangere. Sonst könnte ja jeder kommen. Wer aber keine Papiere hat, muß erst einmal an eine Ersatzlohnsteuerkarte von einem Finanzamt kommen, und die gibt es auch für Schwangere nicht so mir nichts dir nichts. »Ich saß hochschwanger mit zwei kleinen Kindern im Gang, und die gingen vorbei und kochten Kaffee.« Nach solchen Behördentagen ging sie regelmäßig heulend nach Hause, weil nichts klappte. Oft war ihr alles »furchtbar peinlich«, zunehmend kam sie sich wie eine »Asoziale« vor. Vor allem, weil sie das dritte Kind trotz Vorhaltungen von Bürokraten unbedingt haben wollte.
Entnervt zog sie wenige Wochen vor der Entbindung zu Bekannten zum Ausruhen an den Stadtrand von Ost-Berlin. Manuel machte sich im Bauch immer mehr bemerkbar. Daß hier ein neuer Beinahe-Gesamtdeutscher in einem Westberliner Bauch auf Noch-DDR-Territorium zur Welt kommen wollte, stürzte das Krankenhauspersonal im Bezirk Frankfurt/Oder wenige Wochen vor der Vereinigung in Panik. Auf keinen Fall dürfe hier einfach entbunden werden, verlangten sie — wegen der ungeklärten Frage der Kostenübernahme. Doch Manuel hatte es eilig und kam trotzdem als »Ossi« zur Welt. Die Natur hatte einfach kein Einsehen in die bürokratischen Notwendigkeiten.
Manuel war ein »Risikokind«. Bei der Geburt war er nur 49 Zentimeter groß. Zur Sicherheit gab ihn Manuela — zurück im Wedding — in ein Reinickendorfer Krankenhaus. Dort machte man sich Sorgen um seine Gesundheit, zumal Mutter und Kinder keine Wohnung hatten. Man wollte den Kleinen gleich behalten, wegen der schwierigen sozialen Situation. Ärzte und Sozialarbeiter machten Manuela Probleme. Und Manuela machte einen Aufstand. »Wenn eines meiner Kinder wegkommt, wird ein Teil von mir weggerissen.« Sie bekam das Neugeborene frei.
Frühkindliche Bürokratieerfahrungen
Aber eine Wohnung fand sich nicht. Nun ging‘s mit Manuel im Tragetuch und den beiden Älteren weiter auf die Ämter. Einmal nahm sie ihren Mut zusammen und beschwerte sich »weiter oben« über die ewigen Wartezeiten mit den kleinen Kindern. Ein Sachbearbeiter kriegte eins auf den Deckel. Beim nächsten Termin kam er zu ihr in den Gang raus, machte einen gespielten Bückling vor ihr und sagte: »Ah, Frau L., soll ich Ihnen die Füße küssen?« Alle Leute im Warteraum lachten Manuela aus, die schämte sich und kämpfte mit den Tränen. Und peinlich war es ihr auch, ihre Beschwerde hatte ausgerechnet den »einzig Netten« erwischt. Einen WBS bekam sie trotz des Neugeborenen noch immer nicht. Weddinger Mühlen mahlen langsam. Daß ein Neugeborenes besser in einem Kinderwagen untergebracht wäre, fiel auch niemandem auf.
»Komm nach Spandau«, meinten schließlich die Eltern von Manuela. Ein Wohnwagen im Garten des Einfamilienhauses wurde zum neuen Domizil der obdachlosen Familie. Nun lernte sie die zuständigen Spandauer Behörden kennen. Immerhin schaffte man es dort, ihr binnen zwei Wochen einen WBS mit Dringlichkeit auszustellen, was im Wedding in vier Monaten nicht gelang. Selbst ein Kinderwagen wurde für dringend erforderlich gehalten.
Der Dobermann beißt zweimal zu...
Bis auf drei nächtliche Einbruchsversuche und diverse Heizungsprobleme ging zunächst alles gut. Doch Manuelas Vater hat einen riesigen Dobermann. Und der mag Klein Markus nicht. Eines Tages schnappte der Hund zu, das halbe Ohr des Zweijährigen war abgebissen. Manuela kriegte Riesenängste vor dem Jugendamt. Und es kam noch schlimmer: Der Dobermann attackierte den Jungen erneut. Dieses Mal biß er eine 15 Zentimeter lange Wunde in den Kinderschädel. Per Feuerwehr kam Markus ins Krankenhaus. Manuela war verzweifelt. Das Amt drohte dem Vater. Der erlitt einen Herzanfall aus Sorge ums geliebte Tier. Eher wollte er der Tochter die Unterkunft verweigern, als den Hund töten zu lassen. Das Jugendamt versuchte den Vater zu einem Maulkorb für den Hund und zu einer Absperrung um den Wohnwagen zu überzeugen. Manuela wurde vom Amt und von den Ärzten mit Vorwürfen überhäuft. Ihre Ängste vor einer Heimunterbringung der Kinder stiegen ins Unermeßliche.
Sie wollte weg. »Aber im Frauenhaus«, sagt sie, »nehmen sie mich ja auch nicht, weil mein Mann mich nicht verdroschen hat.« Und einfach lügen wollte sie über den Ex-Lebensgefährten schließlich auch nicht.
Beamte mit viel Zeit
Dann wurde die Wohnung einer Verwandten frei. Aus Mitleid mit Manuela kündigte diese den Vertrag nicht. Eine Vertragsübernahme war nicht möglich. Manuela zog ein, obwohl sie wußte, daß sie jederzeit mit ihren Kindern wieder rausfliegen kann. Inzwischen hat sie Dutzende von Bewerbungen an Wohnungsgesellschaften geschrieben, Momper um Hilfe gebeten. Aber: »...'ne alleinstehende Mutter mit drei Kindern, die will in Berlin keiner haben. Das ist was ‘Asoziales‚.« Von Mompers Senatskanzlei kriegte sie immerhin einen netten Brief und eine Adressenliste mit Wohnungsbaugesellschaften. Ein CDU-Wahlkämpfer, dem sie an einem Straßenrand ihre Misere schilderte, riet, sie solle erst mal seine Partei wählen, dann werde schon alles besser...
Doch es kam noch schlimmer: Ein Sachbearbeiter weigerte sich rigoros, die Miete für die Wohnung ohne Vertrag in Charlottenburg zu übernehmen. Die kleine Michaela heulte mit der Mama: »Mama, wenn der böse ist, dann hau' ich den.« In einer Zeitung las Manuela von der Sprechstunde der Spandauer Sozialstadträtin. Die war zwar nicht zuständig, hörte sich aber alles an, griff zum Telefon und erwirkte eine Mietübernahme von oben. Der Sachbearbeiter mußte unter Protest den Vorgang weitergeben.
Die Behördenodyssee war damit aber längst nicht beendet. Seit mehreren Monaten kämpft Manuela mit mehreren Stellen in einem heillosen Chaos um Kindergeld, Sozialhilfe, Unterhaltsvorschuß und Erziehungsgeld. Staatliche Leistungen, die von Bürokraten kompliziert gegeneinander verrechnet, von einander abgezogen, gesperrt, gekürzt und erneut berechnet werden müssen. Wer darauf angewiesen ist, hat zwangsweise Zeitvertreib für Monate, denn anders als bei Waffenexporten in Krisengebiete arbeiten deutsche Beamte in diesem Bereich mit schier unermeßlicher Akribie und Zeit, wenn es um die Überprüfung und Gewährung von winzigen Beträgen geht. Wer sich zu sehr wehrt, wartet beim nächsten Mal eben noch länger. Oft, erzählt Manuela, habe sie mit anderen Frauen in den Warteräumen in ohnmächtiger Wut über die ständigen Demütigungen regelrechte Mordkomplotte gegen einzelne Gruppenleiter und Sachbearbeiter geschmiedet.
Asoziale sollen nicht frech werden...
Als sich Manuela — animiert von anderen Frauen in ihrer Lage — das Buch Sozialhilfe ihr Recht besorgt, flippt ein Sachbearbeiter völlig aus, betrachtet das als eine Unverschämtheit an sich, weigert sich gar, ihr eine Ablehnung zu begründen.
Anders sei die Frau G. auf dem Amt in Spandau. So etwas hat Manuela L. noch nie erlebt: Die habe richtig Zeit, höre zu. Ja, sie gebe sogar Ratschläge und weise Besucher darauf hin, was ihnen rechtlich zusteht. Manuela kann das wohl selbst nicht mehr normal und selbstverständlich finden.
Muttersein: Das schönste im Leben
Aber Wohnungen haben auch nette Behördenmenschen nicht. »Unbesehen« sagt Manuela, würde sie mittlerweile in jede Wohnung einziehen. Ihr Traum: Einfach in Ruhe und Frieden mit den Kindern leben. Ihr Alptraum: Durch weitere Obdachlosigkeit zunehmend als »Asoziale« abgestempelt zu werden, die Kinder an Heime zu verlieren. »Wenn es um meine Kinder geht, werde ich zur Löwin.« Bereut habe sie nie, daß sie drei Kinder habe, antwortet sie erstaunt auf die Frage, ob ihr das unabhängige und freie Leben anderer Frauen in ihrem Alter, ein Beruf, schöne Klamotten, Geld, Diskos nicht manchmal fehlen. Nein, Muttersein sei für sie das schönste im Leben, auch wenn andere dieses Hausmütterchendasein manchmal komisch fänden. Am tollsten sei die Phase, erzählt sie mit leuchtenden Augen, wenn die Kleinen zwischen zwei und sechs seien: »Eine unwahrscheinlich schöne Zeit«. Und überhaupt, wenn sie könnte, wie sie wolle, dann würde sie am liebsten noch mehr Kinder versorgen. Zunächst aber muß sie weitersehen, daß sie ihre drei behalten kann. Das Leben auf und mit den Ämtern geht weiter. »Berlin macht es einem so schwer.« Thomas Kuppinger
*Namen geändert. Wer eine 3- oder 4-Zimmer-Wohnung weiß, wende sich an die Lokalredaktion der taz, Telefon 25902-232.
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