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Meine geheimen Jugendgedichte

■ taz-Autoren und Autorinnen öffnen ihre Schubladen — heute Folge 2: Kunstkritikerin Katrin-Bettina Müller

Viel ist auf diesen Seiten einer freizügigen Zeitung in einer freizügigen Welt schon enthüllt worden. Nun aber werden sich in unregelmäßigen Rhythmen persönliche und damit auch gesellschaftliche Abgründe auftun. Das sind wir, die VollschreiberInnen dieser Seiten, unserer Vergangenheit schuldig. Auch zu schon verlassenen Positionen bzw. auf halber Strecke verendeten Stilübungen muß man stehen, um die Brüche und Verwerfungen kenntlich zu machen und gemeinsam verarbeiten zu können. Kommende Schreib- und Dichtgenerationen werden es uns danken. So werden sich in den folgenden Wochen die geheimsten Leidenschaften, Antriebsfedern und vielfältigsten Verzweiflungen bzw. Betroffenheiten niederschlagen, mehr oder weniger in Versform, denn wenn es eine immergültige literarische Form gibt, die auch jenseits, diesseits und mitten auf dem Todesstreifen ihre Ursprünglichkeit bewahrt hat, dann ist es das früh- bis spätpubertäre Jugendgedicht.

Heute setzen wir unsere Serie mit den frühen Werken der stadtbekannten Kunstkritikerin Katrin-Bettina Müller, Jahrgang 1957, fort. Sie entstanden — vor ihrem Engagement bei der taz — in den Jahren 1967-68 in Frankenforst/Hoffnungsthal im Bergischen Land sowie in den Jahren 1974-82 in Marburg. Auch sie sind bislang unveröffentlichte Dokumente frühen künstlerischen Dranges. Nicht zuletzt deutet sich hier bereits Müllers Hang zur analytischen Weitschweifigkeit an.

In der Schule kann ich nicht den Vater fragen

und dem Nachbarn kann ich auch nicht sagen

wieviel Birnen er am Baume hat

hoffentlich werden alle satt

das alles kann ich nich

doch trotzdem liebst du mich

Finger

Die Hand hat gewöhnlich fünf Finger

am dritten da trägt man die Ringer

die sind besetzt mit Diamanten

bezahlt wurden die schon von Verwandten

die Finger spielen gerne Flöte

am allerliebsten ein Stück von Göte

da laufen alle hin und her

das gefällt den Fingern sehr

alle können so schon gehn

nur einer der kleine bleibt immer stehn

wenn sie dann genug gespielt

man so von der Seite schielt

ob sie werden geschnitten

das sind gute Sitten

ob sie auch nicht dreckig sind

darauf achtet zwar kein Kind

dann werden sie gewaschen

dann steckt man sie in Taschen

die man Handschuhe nennt

mit denen man durch die Straßen rennt

da stecken nun die Finger

am dritten da trägt man die Ringer.

Der Elefant

Der Elefant ist ein großes Tier

und geht nicht gern durch jede Tür

mit seinem langen Rüssel

trinkt er aus einer Schüssel

und wird‘s zu langweilig im Zoo

dann murmelt er oho, oho

mit seinem Rüssel nimmt er ein Bad

das ist so Elefantenart.

Was ich werden möchte

Vielleicht werde ich Missionar

und fahr ins große Afrika

auf meiner Reise umfliegen mich die Möwen

einmal dort angelangt streichle ich den Löwen

und an dem großen Strand

mit dem furchtbar vielen Sand

da steht dann ein Neger mit ‘nem Bastrock und

der hält in der Hand eine Flasche Rum

vielleicht kochen sie mich in Kesseln

vielleicht erlegen sie mich mit Fuseln

vielleicht sind sie nett zu mir

dann schreibe ich meine Erlebnisse auf Papier

doch nein — das laß ich lieber sein.

Frühlingsgedicht

Ich kann nicht dichten, aber ich möchte den Frühling besingen.

Warum? Die Antwort liegt im Frühling selbst. Mit seinem Klingen

ziehen neue Gedanken bei mir ein.

Ein Durcheinander aus altbekannten Phrasen und eigenen neuen Gefühlen

Leichtsinn und Melancholie, Mut und Einsamkeit ringen um die Vorherrschaft in mir

wie wohl schon vor mir seit Generationen in jedem.

Oder nicht? Kennt nicht jeder diesen Tumult von Sehnsüchten,

geweckt und bewußt gemacht durch Schwung in Mode und Natur?

Oder sind es nur Klischees, leeres Reden von den ersten Blüten im ersten starken Sturm

Muß ich mich davon befreien?

Vielleicht wäre das das Beste — es sei denn, es gelänge mir, meinen eigenen Frühling zu schaffen?

mir Freiheit und Sicherheit zu nehmen, mich selbst auszulachen, zu belächeln, zu verstehen?

Wer weiß, vielleicht gelingt es mir?

Offen meine Liebe zu Kitsch einzugestehen und trotzdem

nicht in leere Worte nur um ihres Wohlklangs willen zu verfallen.

Ich hoffe es für mich selbst und das Ansehen des Frühlings!

Der Jüngling stand am Waldesrand,

es wehte kühl ihn an,

der Wind trieb Wolken über den Mond,

da wurd ihm im Herzen bang.

Ein Seufzen erklingt aus dem Unterholz

wie von Jahren gelittenem Leid

und erweckt in ihm des Ritters Stolz

ob er Hilfe leisten kann.

Er teilt das Gebüsch und dringt tief hinein,

aus dem Dunkel schimmert es weiß.

Ein Mädchen, bekränzt und von Marmor ein Stein

machen plötzlich sein Blut ganz heiß.

Es glüht die bleiche Seufzerin

aus dunklen Augen ihn an

schwankend wie ein Blatt im Wind

sie leise zu sprechen begann.

»Ach Jüngling, du sollst heute Opfer sein,

das Blut mir gibt und Leben,

doch du bist so schön und das Herze mein

weigert sich, dir den Tod zu geben!«

Er kann den Sinn ihrer Worte nicht fassen,

steht staunend und zweifelnd da,

kann die Blicke nicht von ihr lassen,

und bietet seine Dienste ihr dar.

»Ach Jüngling, bitte glaube mir,

flieh mich, eh‘ mich‘s gereut.

Seit zweihundert Jahren bin ich Vampir

und du heut‘ meine Beut‘.

Jetzt endlich mit Eiseskälte dringt,

ihr Wesen zu seiner Seele,

der Schreck ihm die Haare zum Starren bringt,

seinem Mund die Worte fehlen.

Trauer und Schmerz, Gier und Lust

Vampira im Tiefen quälen,

bis wie ein Schrei es aus ihr bricht

den eigenen Tod zu wählen.

»Jüngling, wenn du mich nicht fliehen kannst,

und willst doch sein ein Held,

du Hölle und Satan von mir bannst,

wenn du mich schaffst aus der Welt.

Starr beinah wie ein Automat

den Blick nicht los von ihr

sucht er sein Messer für die Tat

gehorchend dem Willen ihr.

Da durchzuckt ihn ein Blitz mit Gewalt

wie er den Arm schon in der Luft,

er bohrt den Stahl in die eigene Brust,

und sinkt in ihre Gewalt.

Vampira schreit, Gewitter bricht aus,

und plötzlich ein Tränenstrom

spült den Satan aus Vampira hinaus

und sie erstarrt zu Stein.

So war sie endlich doch befreit

und mußte morden nicht länger.

Als Grabmal wurde wie viel bereist

und jedem Beschauer wurd‘ bänger.

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