: An den Hunden vorbei
■ Ein Interview mit dem Moskauer Musiker Wowa Sinnij über Independent-Musik in der Sowjetunion
Die offizielle Musikszene in der Sowjetunion beschäftigt sich auch in den Neunzigern noch hauptsächlich mit seichten Schlagern und schepperndem Hard- Rock. Independent-Musik wird auf Kassetten in Miniauflagen verbreitet, obwohl sie längst viele Fans hat. Der 29jährige Wladimir — kurz: Wowa — Emelew gilt als der erste Sampling-Künstler der UdSSR.
taz: Wowa, bist Du der erste Musiker in der Sowjetunion, der mit Sampling gearbeitet hat?
Wowa Sinnij: Jedenfallshat die BBC es mal so gesagt. Angefangen hat alles 1983. Ich probierte aus, wie man Musik mit Hilfe schon fertiger Stücke machen kann. Ich überspielte ein Lied auf eine Spule, griff ein Fragment heraus, klebte die beiden Enden aneinander und ließ das Stück endlos laufen, wie sampeln eben so funktioniert.
Wie bist du darauf gekommen?
Ich habe immer schon viel Radio gehört, 1983 war ja ungefähr der Anfang dieser Musikbewegung. Ich habe mich gefragt, wie die Leute das technisch bringen, zum Beispiel zehn Minuten lang auf dem Schlagzeug denselben Takt zu halten... Nach dem unerwartet positiven Feed-back auf meine ersten Stücke habe ich zunächst als Solist unter dem Namen „Wowa Sinnij“ (Wowa = Blau; Sinnij = Berber) gearbeitet, unter dem ich auch in der sowjetischen Rock-Enzyklopädie aufgeführt bin. 1984 bildete sich dann unsere Gruppe „Bratja po rasumy“ (Vernunftsbrüder).
Das war alles noch vor der „Ära Gorbatschow“. Hat Glasnost für Dich irgendwas Positives gebracht?
Klar. Die Leute, die ins Ausland reisen konnten, wie die Leningrader Gruppe „Novije Kompositori“, haben natürlich von der Tonqualität her viel bessere Stücke mit zurückgebracht. Das hat das Niveau insgesamt angehoben. Darüber hinaus haben sich die Texte grundlegend verändert. Jeder konnte singen, was und wie er wollte. Die Witze über Gorbatschow und den Kommunismus hängen einem inzwischen schon regelrecht zum Halse raus.
Wenn das jetzt schon wieder ein alter Hut ist, was ist jetzt 'in'?
Zur Zeit besteht eine große Nachfrage nach erotischen Texten. Ziemlich viel dreht sich ums zusammenschlafen. Im amerikanischen Rap geht's ja im Grunde nur darum.
Unterstützt Euch der Staat, die offizielle Musikförderung in irgendeiner Form?
Nein, denn wir sind für den Staat keine legalen Musiker. Viele waren gerade in der Anfangsphase, Mitte der Achtziger, wegen ihrer kritischen Texte Repressionen ausgesetzt. Ich selbst habe auch meine Bekanntschaft mit dem KGB gemacht. Kein Wunder, ich stamme aus einer im Prinzip geheimen Stadt: Tscheljabinsk 70, das liegt hinter dem Ural zwischen Swerdlowsk und dem eigentlichen Tscheljabinsk. Dort ist eine der wichtigsten Zentralen des KGB und natürlich atomare Rüstungsindustrie.
Du arbeitest jedoch hauptsächlich in Moskau, oder?
Ja. Den ersten Teil der Arbeit machen wir im Kellerraum eines Vietnamesen-Wohnheims am Illjitsch- Platz. Das kostet rund 50 bis 60 Rubel in der Stunde (ein sowjetisches Monatsgehalt liegt bei circa 250 Rubeln, Anm. der Red.). Dort machen wir im Grunde alles, außer Gesang und spezielle Effekte.
Wo werden die eingespielt?
Das geschieht im besten Studio der Sowjetunion, auf dem Gelände von Mosfilm: illegal und nur nach Mitternacht. Wir klettern dort über einen Zaun und schleichen uns in die Studios. Wenn Dich auf dem Weg die Hunde erwischen oder die Wärter, kann das ganz schön unangenehm werden...
Helft Ihr nach, um die Aufmerksamkeit der Wärter zu senken?
Ja... Es gibt dort eine sogenannte Nacht-Mafia. In dem Studio arbeiten vier oder fünf Toningenieure, die sich nachts schwarz etwas dazuverdienen. Wir zahlen ihnen rund 300 Rubel pro Nacht. Eigentlich kosten sechs Stunden in dem Studio 1.500 Rubel - nach der allgemeinen Preiserhöhung in der Sowjetunion wahrscheinlich noch mehr.
Seid Ihr die einzige Gruppe, die dort heimlich aufnimmt?
Absolut nicht. Ich tippe, drei Viertel der gesamten Moskauer Musikproduktion im Independent-Bereich werden dort schwarz aufgezeichnet.
Kannst Du Dir vorstellen, irgendwann auch offiziell zu arbeiten?
Das scheint gar nicht mehr so weit entfernt. Vor kurzem hat mir eine Musikjournalistin vom sowjetischen Radio, Svetlana Skripitschenko, angeboten, mich in die Hitparaden zu bringen. Vielleicht wird das ein Sprungbrett.
Wovon träumt der Musiker Wowa Sinnij?
Ich würde gerne mal mit Musikern im Westen arbeiten. Sie haben eine ganz andere Herangehensweise als bei uns, von der Abstimmung der Musik bis zu den Videoclips. Wenn dort jemand Musik macht, dann, weil er das Zeug dazu hat. In der Sowjetunion läuft dagegen häufig alles eher zufällig. Wenn hier jemand zum Beispiel durch Beziehungen die Möglichkeit hat, in der Musikbranche unterzukommen, tut er das, egal ob er nun Musiker ist oder nicht. Interview: Mechthild Henneke
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