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Schweden liegt jetzt hinter Wales

Der Fußballweltmeister verlor in Wales 0:1 und beendete 462 Tage und 16 Spiele ohne Niederlagen Elf Fußballspieler brauchen unbedingt elf Dinge, wenn sie ihr Balltreten mit Erfolgen krönen wollen  ■ Von Hagen Boßdorf

Um 22.02 Uhr MESZ verließen elf deutsche Elite-Kicker den Fußballrasen von Cardiff mit hängenden Köpfen, denn soeben hatte Wales mit 1:0 ein Fußballspiel gewonnen — gegen den Weltmeister.

1.Geschichte

Bundestrainer Vogts konnte sich eine Niederlage gegen Wales überhaupt nicht vorstellen. „Einen Punkt holen wir mindestens“, wußte er vor dem Spiel. Während seiner Karriere als verteidigender „Terrier“ spielte Bundes-Berti zweimal in Wales — und hat nie verloren. 1976 in Cardiff half er sogar mit, um die Waliser Kicker 2:0 zu besiegen. Der denkende Mensch glaubt eben nur, was er erlebt.

2.Gesundheit

„Die Fitneß der Mannschaft ist positiv“, freute sich Berti Vogts über die Genesung des Stuttgarters Guido Buchwald. Nach dem Belgien- Match am 1.Mai war das medizinische Bulletin länger als jeder Spielbericht, diesmal schienen alle fit. Bis Buchwald zu einem Kurzstreckensprint herausgefordert wurde, den er gegen Ian Rush so klar verlor wie Ben Johnson seine letzten Rennen. Vorher schon nahm eine Muskelverhärtung im Oberschenkel Kapitän Matthäus jede spielerische Lockerheit.

3.Taktik

Die „Mauer- und Mörtel-Verteidigung“ hat sich gegen das „Mann- und Maus-Sturmspiel“ durchgesetzt. Ballzauberer Doll blieb auf der Bank, Helmer pflügte den Rasen. Der Coach schickte fünf Verteidiger auf den Platz. „Nicht die Abwehr hat das Spiel verloren, sondern das Mittelfeld und der Angriff“, analysierte Vogts. Sein eigenes Defensiv-Korsett ließ die Deutschen nie ankommen, wo das Spiel entschieden wird — im gegnerischen Strafraum.

4.Chancen

„Die bessere Mannschaft hat verloren“, moserte Lothar Matthäus. „Wir haben nur die ersten und die letzten zehn Minuten gut gespielt“, widersprach Assistenz-Trainer Rainer Bonhof. Die Fakten geben ihm recht. Die beste Torchance verköpfte Jürgen Klinsmann in der 86. Minute. Wales-Keeper Southall nutzte die Gelegenheit zum Abflug und kratzte das Leder aus dem Dreiangel. Die Waliser konnten sich zumindest seit der 36. Minute ärgern, als Horne einen 25-Meter-Knaller an die Latte jagte.

5.Schiedsrichter

Dem Ruf der deutschen Kicker nach ihrem eigenen Schutz vor britischer Härte kam der schwedische Schiri Karlsson pfiffreich nach. Attacken gegen Klinsmann und Völler ließ er nicht zu, ihre Einschüchterung konnte er nicht verhindern.

6.Strafen

„Jetzt werden sie wieder alle über mich herfallen“, orakelte Thomas Berthold. Der Bald-Bayer verlängerte seine Interviewzeit um 29 Minuten, nachdem er Ratcliffe mit einem Revanche-Foul betreten hatte. Nun hat er vier Länderspiele Pause. „Ich will ihn vorläufig nicht sprechen. Er soll erstmal in den Urlaub fahren“, unterbrach der Bundestrainer den Kontakt zu seinem Libero.

7.Tore

Der Münchner Reuter bezog den Libero-Posten des „erröteten“ Berthold. Er hatte kaum seine Nebenleute identifiziert, da segelte aus der Waliser Abwehr ein Steilpaß in Richtung deutsches Tor. Liverpool-Stürmer Ian Rush flitzt los, verfolgt von Guido Buchwald. Europas Torschützenkönig von 1984 ist schneller, erläuft das Leder, schiebt es an Illgner vorbei — und läßt sich feiern. 1:0.

8.Debütant

In dieser prekären Situation erlebte Stefan Effenberg seine ersten Länderspiel-Minuten, allein die Zeit war zu kurz zum Glänzen. Trotzdem Trainer Vogts: „Ich habe Stefan nach dem Abpfiff zu seinem gelungenen Debüt gratuliert.“

9.Publikum

Jetzt erst empfanden die 37.000 Zuschauer im ausverkauften Arms Park den wahren Wert ihrer Tickets. Sie erlebten einen historischen Moment mit. Ein Land mit weniger Einwohnern als Berlin besiegt den Fußballweltmeister. „Für den walisischen Fußball ist das ein ganz großer Tag“, jubelte Trainer Terry Yorath.

10.Tabelle

Wales (7:1 Punkte) übernimmt die Führung in der EM-Gruppe 5. Die deutsche Elf (4:2) muß nun (selbstverständlich) gegen Wales und (sogar) in Belgien gewinnen. Nur dann können sich Völler & Co. im Abschlußspiel gegen Luxemburg noch in die EM-Endrunde kanonieren.

11.Presse

Daran verschwendet die britische Presse keinen Gedanken. „Wales steht auf dem Gipfel der Welt“, schreibt 'Daily Mirror‘, „In der Kathedrale des Rugby errang Wales den größten Triumph seiner Geschichte“, kommentiert 'The Times‘. Und 'Daily Mail‘ frohlockt: „Wales besiegte die Streimacht und den Ruf des Weltmeisters.“

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