: Engholms sanfte Abrechnung mit Kohl
Haushaltsdebatte im Bundestag: Beim ersten Auftritt als frischgebackener SPD-Chef kritisiert Björn Engholm die Bundesregierung hart, aber mit sanften Tönen/ Kohl lächelt milde und bleibt auf Kurs ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan
Umfassend wie moderat kritisierte gestern der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm in seiner ersten Bundestagsrede als neuer SPD-Vorsitzender die Bonner Regierung. In der Generalaussprache über den diesjährigen Haushalt warf Engholm Bundeskanzler Helmut Kohl vor allem vor, daß die Koalitionsregierung die Menschen hierzulande über ökonomische und soziale Folgen der Einheit nicht aufgeklärt habe und daß ihre Politik von „ausgeprägter Perspektivlosigkeit“ sei. In Ost und West seien die Bürger „systematisch hinters Licht geführt worden“. Und: „Wer leere Versprechungen und Täuschungen sät ... muß notwendig Mißtrauen und Skepsis ernten.“
Engholm kritisierte besonders, daß Bonn auf nahezu alle wichtigen gesellschatftlichen Fragen keine grundsätzlichen Antworten suche. Er vermißte etwa Konzepte, mit denen Armut bekämpft werden könnte: „Sie werden überhaupt nicht entworfen. Sozialpolitik bekommt wieder den Anstrich von Wohltätigkeit.“ Oder der Verkehr: Bonn habe die deutschen Straßen ins Chaos laufen lassen.
„Keinen festen Platz am Kabinett- Tisch“, so Engholm, habe auch die ökologische Umgestaltung der Industrie- und Konsumgesellschaft. Und statt ein modernes Einwanderungsrecht zu konzipieren, werde das Asylrecht zur „variablen Abwehrmasse“ gemacht. Heftig schalt er die Bundesregierung überdies für ihre „sozial völlig asymetrische“ Steuerpolitik.
Deutlich weniger konkret war der neue SPD-Chef in seiner Antrittsrede dort, wo es um die Vorstellungen der Sozialdemokraten für eine „ökonomisch kraftvoll und sozial verbindlich gestaltete“ Einheit ging. Allgemein redete Engholm einem intakten, lebensfähigen Föderalismus das Wort.
Als Mittel gegen die wirtschaftliche Krise im Osten Deutschlands pries er, wie schon auf seiner Grundsatzrede auf dem Bremer Parteitag, vielerlei Einzelmaßnahmen — aber legte kein geschlossenes Konzept vor: die Ergänzungsabgabe müsse angehoben, eine Arbeitsmarktabgabe befristet erhoben werden. Auf die Vermögens- und Kapitalsteuer dürfe man nicht verzichten.
Die industrielle Struktur in der ehemaligen DDR gelte es zu sanieren und in die Infrastruktur zu klotzen und nicht nur zu kleckern. All dies trug der SPD-Chef Björn Engholm ruhig und bedacht vor und erntete dafür freundlich-herablassende Töne vom Bundeskanzler. Engholms erste Bundestagsrede als Vorsitzender, so Helmut Kohl lächelnd zum SPD- Chef, sei genausowenig geglückt wie seine eigene vor etlichen Jahren.
Ungewohnt milde kritisierte der Kanzler Engholm dafür, daß er sich zu entscheidenden Fragen wie etwa zu der nach militärischer Abrüstung überhaupt nicht geäußert habe. Wiederholt rief Kohl die Sozialdemokraten auf, gemeinsam mit Union und FDP die hierzulande anstehenden Probleme zu bewältigen. Die Anwürfe Engholms wies der Bundeskanzler routiniert zurück.
Dagegen pries er — wie stets — die Wirtschaftspolitik seiner Regierung: „Es boomt, in der Finanzpolitik gehen wir mit Augenmaß voran“, und in einigen Jahren würden die neuen Bundesländer zu den „attraktivsten und interessantesten Industriestandorten gehören“.
„Katastrophal“, schimpfte PDS- Chef Gregor Gysi die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Sie schaffe ein Heer von Arbeitslosen und gebe den Menschen in der ehemaligen DDR das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Er warf der Regierung außerdem vor, trotz der Entspannung im Osten Nato und WEU neu zu beleben, „etwa, um künftige politische und ökonomische Kämpfe in der Dritten Welt vorzubereiten“, so seine rhetorische Frage.
Vera Wollenberger, Bündnis 90/ Grüne griff die Bundesregierung in Bonn besonders dafür an, daß sie für ihre Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit kaum Geld und Zeit aufbringe, dagegen viel zuviel in die sogenannte innere Sicherheit stecke. Sehr nachdrücklich forderte sie Deutschland im Bereich Rüstungskonversion „zu ermutigenden Beispiel für Europa zu werden“.
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