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„Ich bin so ein gekränktes Kind“

Alexej Schipenko: Der letzte sozialistische Realist  ■ Von Oksana Bulgakowa

Auf der Bühne zwei alte Wesen: ein auf den Hund gekommener Alkoholiker in Unterhosen und abgerissenem Soldatenrock und seine halbwahnsinnige Mutter („wundgelegene Stellen, graue Zotteln, ein kaputtes Nachthemd, Gestank“). Beide können sich nicht bewegen: Sie ist gelähmt, er betrunken. Mit Toilettenwasser (Wodka ist zu teuer, die Rente wurde schon drei Monate nicht gezahlt, der Staat ist bankrott) spült er seine Erinnerung an das Fliegen (er war Pilot) und an den Krieg herunter. Alles ist Vergangenheit. Aggressiv werfen sich die beiden neunzig Minuten lang obszöne Flüche an den Kopf, sprechen unentwegt von Scheiße (ganz direkt, da Exkremente das Bett überschwemmen, und im übertragenen Sinn: Fernsehen, Perestroika, Jelzingorbatschowromanow), singen, bellen, schreien und wirken trotzdem wie Unschuldsengel. Manchmal verfallen sie in einen Halbschlaf und träumen. Dann sterben sie. Unmerklich, gleichzeitig. Die zurückgekehrten Nachbarn schauen hinein, telefonieren, verschwinden. Die beiden Toten erreichen den Zustand abgehobener Glückseligkeit. Das quälende Leben ihrer Körper ist beendet, der Tod bringt nicht nur die Erlösung von Schmutz und Starrheit, sondern ist das eigentliche Leben, dessen Substanz.

Dieses merkwürdige Stück (einerseits pessimistisch: Leben ist Tod, andererseits optimistisch: Auch Tod ist Leben) hat ein junger Mann geschrieben: ein Russe — Fußballspieler, Schauspieler, Gitarrenspieler — , kurzum ein Spieler par excellence. Jetzt spielt er mir die Rolle seines Lebens vor: sich selbst, Alexej Schipenko, 29, hochgewachsen, sportlich, attraktiv und natürlich genial. Wir sitzen in der Theaterkantine der Volksbühne am Luxemburgplatz, sein Stück La Fünf in der Luft wird gerade geprobt, die Berliner Aufführung ist die dritte deutsche Aufführung nach Darmstadt und Nürnberg.

Das Stück hat im Ansatz etwas von Beckett, in der Ausführung etwas von Genet, doch Aljoscha mag diese veraltete Avantgarde nicht: „Ich bin der einzige echte sozialistische Realist. Bei mir wetteifert das Gute mit dem Besseren. Darin liegt der Konflikt. Das ist doch Sozrealismus pur. Alle anderen, die sich als Sozrealisten ausgeben, sind Parasiten im Körper der sozialistischen Realität.“

Er ist ein Sunnyboy, dem alles glückte, doch die Leichtfüßigkeit eines Erfolgsknaben streift er ab — nicht sein Fach. Er kommt aus Rußland, und da ist alles schwer und tragisch — ein Land irrationalen Glaubens (nur Wunder können noch retten) und apokalyptischer Stimmungen. Mit seinen Gesprächen über Tod („vielleicht sterbe ich heute abend“) und Fatum („ich bin schon als Toter geboren worden“) verunsichert er die Journalisten. In der Ecke wartet schon jemand von 'Zitty‘, gestern war 'Prinz‘ da. Und Aljoscha bedient großzügig die Erwartungen der Westler in puncto mystische slawische Seele mit einem leichten Touch Buddhismus, was beides im krassen Widerspruch zu seinem sportlichen Auftreten (Lederjacke, Sonnenbrille, Halstüchlein) und seiner Ironie steht. Er überprüft meine Reaktion auf seine Verkündungen und kichert verstohlen. Jetzt erzählt er mir sein Leben und hört sich selbst verzaubert zu: Es ist ein Roman.

Er wählt wirkungssichere Details und betont die (melo)dramatischen Zufälle. Fußball (fast in der Nationalmannschaft, doch mit 14 aussortiert wegen kranker Nieren), Schauspielerkarriere in Tallinn und Moskau, plötzlicher Aufstieg als Stückeschreiber. „Man nimmt meine Stücke schon an der Hochschule durch, ich bin ein Klassiker.“ Mit dem Lesen und Schreiben begann er, als er von der Sportschule nach Hause zurückkehrte, ins normale Leben, in die stille sonnige Provinz am Schwarzen Meer: „Da gab es für mich nur eine Alternative — die eigenen Träume. Ich lebte in der Welt meiner Phantasien und Halluzinationen. Bis zum 13. Lebensjahr las ich kein einziges Buch. Dann gab mir mein älterer Bruder die Bücher, die er las: Sartre, Nathalie Sarraute... Das war ein Sprung in die Postmoderne ohne die obligate Klassik vornweg. Da begriff ich, daß meine Träume Literatur heißen. So begann ich zu schreiben. Dieses Stück schrieb ich, um sozusagen nicht ganz von der Realität abzuheben.“

In den letzten zehn Jahren betrat die Generation der vierzigjährigen Dramatiker die sowjetische Bühne. Sie verstanden sich als neue Welle, als Neonaturalisten, die den sowjetischen Alltag als einen Alptraum entdeckten, welcher den Menschen total deformiert, zur animalischen Existenz verdammt. „Ist dein Stück nun eine Antwort oder eine Parodie auf diese ,Väter‘?“ frage ich ihn. „Ich habe mit ihnen nichts zu tun. Sie haben diesen schrecklichen Alltag doch romantisiert und verklärt, aus ihm ästhetisierte Kunst gemacht. Ich schrieb La fünf in der Luft über meine Nachbarn in der Moskauer Gemeinschaftswohnung. Sie leben, und ihr Leben ist wie Sterben. Sie sterben, und das ist das eigentliche Leben. Die Realität, die wir als Leben erleben, ist nur eine Wahrheit. Wir denken immer, daß es noch etwas anderes gibt, das wir nur ahnen und nicht kennen. So denkt ein gekränktes Kind manchmal, daß seine Eltern gar nicht seine Eltern sind, daß die richtigen woanders leben. Und es hat recht, da seine eigentlichen Eltern im Himmel sind. Ich bin so ein gekränktes Kind. Ich glaube fest daran, daß wir von der Welt nur sehr wenig wissen. Ich weiß, daß die Realität nicht die endgültige Wahrheit ist. Die Welt steckt voller Magie, seine Zufälle erweisen sich als Gesetze, als symbolische Zeichen. Ich spüre diese geheimnisvollen Verbindungen auf, versuche sie zu deuten und schreibe meine Phantasien nieder.“

„Warum projizierst du deine Träume auf die Bühne, abstrahiert von dir, und läßt die anderen sie ausspielen?“ „Theater ist so etwas wie die Imitation des göttlichen Aktes der Erschaffung der Welt. Die subjektive Literatur hat eine lange literarische Tradition, da die Prosa immer individualistischer wurde und — langweiliger. Ihr Wort ist geschrieben und nicht ausgesprochen. Im Theater lebt das Wort. Es steckt die Zuschauer auch mit Energie an. Für das Leben.“

„Und was macht, was kann Kunst jetzt in Rußland für das Leben machen?“ „Es gibt dort zur Zeit keine Kunst. Alle fühlen sich etwas verloren. Unsere Kunst war immer ein Kommentar zur Realität. Zum Theater des Lebens. Sie erklärte, wie man eigentlich leben sollte. Der Künstler mußte wie ein Prophet auftreten, der alles besser weiß und als einziger durchblickt. Das ist lächerlich. Jetzt ist die Distanz zwischen Leben und Kunst verschwunden. Das Leben wurde zur Kunst, zum Theater (etwa der Demonstrationen, Aktionen, Manifestationen?). Und die Kunst verflüchtigte sich. Vielleicht wissen deshalb viele nicht, wo und wie sie die neue Distanz suchen sollen.“

Für Aljoscha ist diese sowjetische Situation nicht mehr so spannend, er will etwas anderes ausprobieren, vielleicht eine Zeitlang in Deutschland bleiben. Vielleicht ein Opernlibretto schreiben. Vielleicht selber Regie führen. „Zum Arbeiten organisiere ich mir eine Zwangssituation, wie Dostojewski. Um leben zu können, muß ich schreiben. So lebe und schreibe ich — von einem Honorar bis zum nächsten.“

Aljoschas Großvater war einst der persönliche Fahrer des Ersten KP- Sekretärs Abchasiens, 1937 wurde er, wie sein Chef, erschossen. Aljoschas Vater besuchte vor kurzem das Heimatmuseum und entdeckte dort jenen alten Mercedes, den er in der Kindheit als den Wagen seines Vaters kannte. Daraufhin bat er seinen Sohn: „Wenn du im Westen berühmt wirst, schenk mir so ein Auto. Dann schreibe ich meine Memoiren: zwei Daimler.“ Ich glaube, diese Geschichte wird wohl eher Aljoscha aufschreiben, um den Wunsch seines Vaters zu erfüllen.

La Fünf in der Luft läuft in der Inszenierung von Mirja Erzeg an der Volksbühne Berlin. Nächste Aufführung: 25. Juni.

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