: Die Zukunft der Großssiedlungen
■ Auf dem Stadtforum waren sich alle einig: Die Politik darf sich nicht den Zwängen des Marktes unterwerfen/ Dezentralisierung für Großsiedlungen/ Wird die Stadtkultur an den Rand gedrängt?
Berlin. Führt die Entscheidung des Bundestages, Berlin zum Regierungssitz zu machen, zu mehr Freiheiten in der Stadtplanung? »Das Betteln und Buhlen um Investoren ist nicht mehr so nötig wie vorher«, erklärte der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Wolfgang Thierse am Samstag in der sechsten Sitzung des Stadtforums, das den Senator für Stadtentwicklung berät. Die Teilnehmer — Architekten, Stadtplaner, Politiker und Vertreter der Berliner Gesellschaft — waren in einem einig: Die Politik dürfe sich nicht den vermeintlichen Zwängen des Marktes unterwerfen. Doch wie man dies verhindern kann, wußte kaum jemand zu beantworten — weder am Freitag, als es um die Zukunft der Großsiedlungen am Ostrand der Stadt ging, noch am Samstag, als »Stadtkultur« auf der Tagesordnung stand.
Regine Grabowski vom Berliner Mieterverein, die in einer der Großsiedlungen wohnt, befürchtet, daß die Mieten in Hellersdorf und Marzahn von den bisher etwa 1,80 Mark pro Quadratmeter auf über acht Mark steigen werden. Ab Oktober werde die Grundmiete auf 2,60 Mark verdoppelt, die Heizkosten und Betriebskosten dürften jeweils auf drei Mark und 3,50 Mark erhöht werden. Dennoch würden selbst diese Mieten nicht die Kosten decken, die für die Erneuerung der 150.000 Wohnungen, in denen zehn Prozent der Berliner leben, nötig wären. Auf 800 Mark pro Quadratmeter schätzte Hartmut Meuter von der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn die Sanierungskosten. Grabowski vermutet, daß bei Mieten von acht Mark das passiere, was niemand will: Viele Bewohner müßten ausziehen, und die gewachsenen Hausgemeinschaften von meist hochqualifizierten Arbeitnehmern würden zerrissen.
Wolfgang Schumann von der Humboldt-Universität bemängelte, daß es besonders in den Neubaugebieten zu wenig Angebote gebe: »Am Wochenende entleeren sich die Stadtteile.« Für das Vakuum, das die sozialistische Stadt hinterlassen hat, müsse ein neues Leitbild geschaffen werden. Helga Faßbinder, eine der »Weisen« des Forums, unterschied die notwendigsten Maßnahmen in zwei Komplexe: Sofort müsse der Bestand gesichert und untragbare Zustände beseitigt werden, mittel- und längerfristige städtebauliche Strukturverbesserungen müßten vorbereitet werden. Hardt-Waltherr Hämer von der Stadterneuerungsgesellschaft S.T.E.R.N forderte, daß die Verwaltung der Wohnkomplexe radikal dezentralisiert werden müsse. Er kritisierte, daß die Treuhand die wenigen existenten Freizeiteinrichtungen an Gewerbe verkaufe: »Wir können uns hier gut unterhalten, aber die Stadtentwicklung wird draußen gemacht.«
Auch am Samstag drehten sich viele Redebeiträge um die Macht des Geldes. Dorothea Colland vom Kunstamt Neukölln stellte fest, daß die Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg zum Eldorado für freie Gruppen geworden sei. Grund dafür seien ungeklärte Eigentumsverhältnisse, ungenutze Remisen auf den Hinterhöfen und besetzte Häuser. Nun müsse man dafür Sorge tragen, daß die Kommerzialisierung die Mieten nicht in ungeahnte Höhen treibe und die Stadtteilkultur an den Stadtrand dränge. Colland meldete auch für Westbezirke Nachholbedarf an. In Neukölln (320.000 Einwohner) könne ein einziges Kulturzentrum unmöglich ausreichen, in Gropiusstadt seien nur U-Bahnhöfe als Kulturflächen nutzbar, da alles andere in der Hand von Hausmeistern und Sozialarbeitern liege.
Auch Faßbinder mißfiel, daß Stadtteile völlig verplant seien, »Nischen gibt es nicht«. Statt Planungen, so schlug sie vor, müßten Freiräume zur Verfügung gestellt werden. Senator Volker Hassemer (CDU) sagte, die »Stunde Null im Osten« müsse man nutzen, um Freiräume zu sichern — ohne daß dies von der Finanzierbarkeit abhängen dürfe. Es bleibe allerdings nur das Instrument der »Zurückhaltung des Eigentums«. Dorothea Dubrau, Baustadträtin von Mitte, wagte sich einen Schritt weiter vor. Wenn Großinvestoren die Kultur nicht an den Rand drängen sollen, müßten sie selbst die Mittel dafür bereitstellen, etwa für die Sanierung des Kulturzentrums Tacheles. Dirk Wildt
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