Wider jede Vernunft

■ Betr.: "Die Kuh ist vom Eis", taz vom 21.6.91

betr.: „Die Kuh ist vom Eis“,

taz vom 21.6.91

Wider jede Vernunft und gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung wurde Berlin gegen Bonn durchgeputscht. [...] Letztendlich dient die Berlin-Entscheidung als Stillhaltebonbon: Erhofft wird eine Ruhigstellung der Menschen im Osten für ein paar Jahre — bis diese merken, sie werden schon wieder reingelegt. Viele, die nachts auf den Straßen Berlins tanzten, weil sie meinten, in Bonn würde für sie votiert, werden in der Metropole zukünftig keinen Platz mehr finden. Nicht nur Kreuzberg und Prenzlauer Berg, auch Betonplattensiedlungen in Märkischen und östlichen Vierteln, werden für Normaleinkommen unerschwinglich sein.

Die, die im Bonner Wasserwerk Berlin bestellten, brauchen die Rechnung nicht bezahlen. Klar ist: Das Votum für Berlin ist ein Votum gegen die Umwelt. Unter Normalbedingungen war Widerstand gegen Großflughafen und Verkehrswegebeschleunigungsgesetz, gegen Atomverbund und Müllverbrennung zwar schwierig, doch nicht aussichtslos. Im Namen der Hauptstadt, unter dem Banner des Adlers werden sich nun die Maschinen in die Landschaft fressen. Verkehrswegebeschleunigung nun mit Regierungsnachbrenner. Achtspurige Autobahnspinnennetze, Schnellbahntrassen, Großflughafen, MVA? Na klar! Atomkraft? Ja bitte — sonst gehen im Reichstag die Lichter aus! Auf Jahrzehnte wird kaum noch was zu verhindern sein. Was scheren uns Frosch und Sumpfdotterblume, was Mensch und Umwelt — wenn es um Deutschland geht!

Aufbegehrenden KritikerInnen, egal ob Greenpeace, BUND und andere, wird von gewalttätigen Polizeihorden in Europas Polizeistadt Nummer eins schnell klargemacht werden, wie mit „vaterlandslosen GesellInnen“ umgegangen wird. Allenfalls wird einer liberal-grünen Partei im brandig riechenden Parlamentssarg Reichstag gestattet werden, zum Gaudi deutschnationaler Mehrheiten den ökologischen Zeigefinger zu erheben: Großdeutschland — aber ökologisch bitte!

Am 20.Juni wurde die Chance vertan, die Domino-Logik der Restauration zu durchbrechen. Zum vierten Mal in diesem Jahrhundert haben Sozialdemokraten und Anverwandte versagt. In zehn Jahren sind Schlesien und Ostpreußen dran. Nicht mit Gewalt versteht sich, sondern mit „sanftem“, wirtschaftlichem Druck: Die müssen das selbst wollen. Wolfgang Kühr, Essen