: Ein Prolog für die Moral
Der Franzose Thierry Marie gewann in Lyon wie gewohnt den Prolog der Tour de France/ Starke Leistungen von LeMond und Breukink, die schon auf der 1. Etappe einen Vorsprung herausfuhren ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) — Früher konnte man die ersten Etappen der Tour de France normalerweise getrost ignorieren. Es waren die Tage der Sprinter, die um Etappensiege und das „Grüne Trikot“ des Punktbesten spurteten, und sie brachten die großen Stunden der Eintagsfliegen, in der Gesamtwertung chancenlose Fahrer, die ihre Tournominierung dadurch zu rechtfertigen suchten, daß sie mit spektakulären Ausreißversuchen zur Freude ihres Sponsors wertvolle Fernsehsendezeit ergatterten. Den Topleuten diente diese Phase der „Großen Schleife“ zum gemächlichen Einrollen. Nach dieser althergebrachten Art würde die Tour de France 1991, die insgesamt flacher und leichter ist als ihre Vorgänger, erst mit dem extrem langen Zeitfahren (73 Kilometer) von Alen¿on am 13. Juli beginnen und nach dem Flug von Nantes nach Pau auf der ersten Pyrenäen-Etappe am 18. Juli so richtig in Schwung kommen.
Doch nichts ist mehr so, wie es mal war, auch im Radsport. Die großen Rundfahrten werden heutzutage vom ersten Tag an mit hohem Tempo bestritten, es wird attackiert auf Teufel-komm-raus, und die Favoriten müssen aufpassen wie die Luchse, daß sie nicht gleich zu Beginn entscheidend ins Hintertreffen geraten. In den letzten beiden Jahren wurden sowohl die Spanien-Rundfahrten als auch der Giro d'Italia jeweils von Fahrern gewonnen, die sich das Trikot des Spitzenreiters bereits auf den ersten Etappen übergestreift hatten, und auch bei der Tour de France spielten die Anfangsabschnitte eine gewichtige Rolle.
1989 rückte der Prolog, sonst eher eine kleine Spielerei zum Auftakt, plötzlich in den Mittelpunkt, weil der erste Anwärter auf den Gesamtsieg, der Spanier Pedro Delgado, seinen Starttermin versäumte und mit zwei Minuten Rückstand Letzter wurde. Vor Schreck setzte der Sieger von 1988 am nächsten Tag gleich noch das Mannschaftszeitfahren in den Sand, weil er vorher nicht genug gegessen hatte, und verspielte damit jegliche Chance. Im vergangenen Jahr sorgte die erste Etappe für Wirbel, als sich eine Vierergruppe mit solch starken Fahrern wie Claudio Chiappucci, Ronan Pensec und Steve Bauer ungehindert einen Vorsprung von sage und schreibe zehn Minuten herausstrampeln konnte. Erst beim Zeitfahren der vorletzten Etappe gelang es dem Amerikaner Greg LeMond, den aufopfernd kämpfenden Chiappucci gerade noch abzufangen. Und auch diesmal gab es einen Paukenschlag auf der ersten Etappe. Nachdem er schon beim Prolog imponiert hatte, setzte sich Greg LeMond beim 56. der 114,5 Kilometer rund um Lyon mit einer zehnköpfigen Gruppe ab, in der sich von den Topfavoriten nur Erik Breukink und Raul Alcalá befanden. Im Ziel hatte die Gruppe, deren Sprint Diamolidine Abduschaparow (UdSSR) gewann, 1:44 Minuten Vorsprung vor dem Feld. LeMond wurde Dritter und durfte sich für das folgende Mannschaftszeitfahren das Gelbe Trikot überstreifen. „Ich verstehe gar nicht wie so etwas passieren konnte“, meinte die deutsche Hoffnung Uwe Ampler. „Das Tempo war sehr hoch.“
„Die Zeiten, in denen es möglich war, Giro und Tour im selben Jahr zu gewinnen, sind vorbei“, hatte LeMond angesichts des mörderischen Tempos, das neuerdings vorgelegt wird, schon vorher gesagt, und dementsprechend haben sich die Tourfavoriten in diesem Jahr auch vorbereitet. Fast alle taten genau das, was sie sonst mit Inbrunst Greg LeMond vorgeworfen hatten: Sie konzentrierten sich voll und ganz auf die Tour. Nur die Italiener Gianni Bugno und Claudio Chiappucci fuhren beim Giro vorne mit, schließlich würden es ihnen die Radsport-Tifosi niemals verzeihen, wenn sie die Tour offensichtlich vorzögen. Zumindest im Falle Bugno, der Vierter wurde, stellt sich jedoch die Frage, ob wirklich nicht mehr drin war oder ob er seine letzten Reserven nicht doch für die lukrativere Tour aufgespart hat.
Pedro Delgado verzichtete auf die Spanien-Rundfahrt und beim Giro bummelte er zwar nicht unbedingt hinterher, vermied aber allzu kraftraubende Aktionen. Laurent Fignon plagte sich in Italien mit körperlichen Beschwerden herum und gab früh auf, der Niederländer Erik Breukink tingelte lieber durch die USA und auch Greg LeMond blieb sich treu. Der Mann aus Colorado hatte zwar angeküdnigt, in diesem Jahr beim Giro aufs Ganze zu gehen, doch auch er zog es vor, lieber schon vor den brutalen Alpenetappen aus dem Sattel zu steigen. Ein Schock sei es gewesen, wie „mir die anderen um die Ohren fuhren“, meinte er anschließend, aber ob er tatsächlich nicht in seiner besten Verfassung ist, oder ob es doch wieder nur Bluff war, muß abgewartet werden.
Beim Prolog am Samstag in Lyon präsentierte sich LeMond jedenfalls in Glanzform. Hinter dem Prologspezialisten aus Frankreich, Thierry Marie, der diesen Tourvorspann nach 1986 und 1990 zum dritten Mal gewann, und Breukink wurde LeMond Dritter. Enttäuschend hingegen die Vorstellungen von Bugno, Delgado, Fignon und Ampler. Die Abstände bei diesem Mini-Zeitfahren über 5,4 Kilometer waren natürlich äußerst gering — der Geraer Thomas Barth hatte als 186. gerade 44 Sekunden Rückstand auf Marie — als erster Gradmesser für die Befindlichkeit der Favoriten können sie dennoch dienen. Außerdem gibt ein guter Auftakt Selbstvertrauen. Das sieht auch Rolf Gölz aus Schussenried so, der mit seinem elften Rang hochzufrieden war: „Das ist meine beste Plazierung bei einem Tourprolog. Das stärkt meine Moral.“ Matti
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