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Der »Fortschritt« rast im Kreis

■ Der Ernst-Reuter-Platz wurde zur städtebaulichen Greueltat/ In den Sechzigern verkörperte er die Utopie der modernen Stadt

Charlottenburg. Wer kann den Ernst-Reuter-Platz genau beschreiben, Meter für Meter? Wahrscheinlich niemand. Kaum ist er umschritten, fällt er dem Vergessen anheim. Kaum ist man hier entlanggefahren, inmitten des tosenden und lärmenden Kreisverkehrs, erinnert man sich keines Details mehr. Die Sinne, beleidigt von den öden Betonklötzen, werden gelähmt, unfähig, die Einzelheiten zu erfassen.

»Gesichtslos«, würden manche vielleicht den Platz nennen. Aber das stimmt nicht. Er hat das Gesicht einer historischen Utopie: der Idee der modernen, verkehrsgerechten Stadt, wie sie in den fünfziger Jahren erträumt wurde. Funktional, praktisch, gut. Hier rast und rollt der »Fortschritt«, hier recken sich die Gebäude der Industrie, der technischen Intelligenz, der Banken und Versicherungen zum Himmel, streben nach Höherem — oder dem, was die Planer dafür halten. Ursprüngliches gibt es nicht mehr, keine Erinnerung, kein Verharren. Schade, daß durchschnittliche planerische Ignoranz nicht nach dem Strafgesetzbuch geahndet wird.

Wo bleibt der Strand unterm Pflaster? Am Anfang war hier nur märkische Heide, durchzogen von einem kleinen Sandweg ins Dörfchen Lützow. Auf dem ließ sich die Kurfürstin Sophie Charlotte, Eheweib des späteren preußischen Königs Friedrich III., an einem Frühlingstag des Jahres 1694 in ihrer Equipage dahintragen. Die Gegend gefiel ihr, denn sie wählte den Ort zum Sitz ihrer Sommerresidenz. Das Schloß Charlottenburg wurde erbaut, Hofbeamte siedelten sich im neuen, das Dorf Lützow aufsaugenden Städtchen Charlottenburg an. Der Weg zwischen dem kurfürstlich-königlichen Stadtschloß und dem neuen Damenwohnsitz füllte sich mit Karrossen und Kutschen. Die neue Große oder Lange Straße, wie sie dann hieß, knickte am heutigen Ernst-Reuter- Platz nach Nordwesten ab und verlief als Berliner Chaussee beziehungsweise Neue Berliner Straße zum Schloß. Zu der Zeit, als die französischen Truppen Napoleons 1806 auf diesem Weg nach Berlin einmarschierten, hieß der Knick noch »Umschweif«.

Doch ab 1830 erhielt er einen neuen Namen: »Knie«. Der Legende nach war er der Form der Beine der schönen Schauspielerin Auguste Crelinger nachempfunden, die dort in einem Landhaus wohnte und als Iphigenie, Antigone oder Maria Stuart so berühmte Theaterbesucher wie die Gebrüder Grimm oder Ranke verrückt machte. Der Platz wurde bald aber auch noch durch etwas anderes bekannt: Die erste deutsche Pferde-Straßenbahn fuhr ab 1865 vom Stadtschloß und Brandenburger Tor übers »Knie« bis nach Charlottenburg.

Ab 1880 entstand hier neben einigen Hotels und Etablissements auch die Technische Hochschule, die 1902 mit der Haltestelle »Knie« an die U-Bahn-Linie 1 angeschlossen wurde. Der Platz wurde immer häßlicher, immer mehr ein Gebrauchsobjekt des Verkehrs. Die Nazis taten das ihrige dazu. »Das Knie ist gerade«, meldeten die Zeitungen im Mai 1939. Der neugeregelte Verkehrsstrom floß nunmehr geradeaus in die Ost-West-Achse, die spätere Straße des 17.Juni. Doch 1943 lag hier alles in Schutt und Asche.

Auf den noch rauchenden Trümmern des Zweiten Weltkrieges wurde dann der Kalte Krieg geführt, der sozialdemokratische und strikt antikommunistische Bürgermeister Ernst Reuter hielt in den Zeiten der Berlin-Blockade seine feurigen Balkonreden. Zwei Tage nach seinem Tod im Jahre 1953 beschloß der Senat, das zerschossene Knie mit seinem Namen zu schmücken. Mit der Neugestaltung des Platzes, die möglichst avantgardistisch ausfallen sollte, wurde der Architekt Prof. B. Hermkes beauftragt. Der würfelte dann schwungvoll diverse Hochhausklötze rund um die neue Verkehrsinsel. »Besonders an lauen Sommerabenden«, schwärmte 1960 ein Journalist über den fast fertiggestellten Ernst-Reuter-Platz, dürfte es hier »recht idyllisch werden, wenn die Springbrunnen im gleißenden Licht der Scheinwerfer ihre Fontänen meterhoch werfen«. Ob danach Prämien ausgesetzt wurden, um Liebespaare in den idyllischen Abgasnebel über die Wasser zu locken, ist nicht bekannt. Dafür aber die Menge der Autos, die schon 1962 um die Insel rasten: täglich rund 50.000 allein zwischen 7 und 19 Uhr.

Elefantengrau, mausgrau und betonweiß umwölken dort funktionale Verwaltungsbauten den Blick der Fußgänger. Im gröbsten Klotz am Platze lernten ArchitekturstudentInnen der Technischen Universität ihr Verbrecherhandwerk, bis die Geschichte sich rächte und Asbest von der Decke rieselte. Nun wird saniert.

Ein häßliches Lachen der Geschichte geht auch vom Telefunkenhochhaus aus, das diverse geisteswissenschaftliche Fachbereiche der TU beherbergt. Damals, als jenes »Haus der Elektrizität« gerade fertiggestellt war, da galt es als steingewordenes Symbol der städtischen Zukunft. Seine 28.000 Tonnen Gewicht standen bodenständig fest in einer Betonwanne, die auf dem sumpfigen Grund des Berliner Urstromtals lag, seine aufstrebenden 21 Stockwerke verkörperten Schaffenskraft und Optimismus, übertroffen nur von der im 'Tagesspiegel‘ als »sauber« und »klingend« beschriebenen »städtebaulichen Harmonie« des 1962 eröffneten IBM-Hauses nebenan. Doch die BetrachterInnen von heute blicken auf den Auswurf der Autos, der als braunschwärzliche Masse die Fassade verklebt. Auf einem Plakat wird mit unfreiwilliger Ironie der ganze Platz auf den Begriff gebracht: »Zurück in die Zukunft.« Ein wichtiges Denkmal des Technologiewahns, dieser Platz. Es fehlt nur ein Schild mit den Namen der Städteplaner und der Unfallopfer. Ute Scheub

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