Eine Art Gewissen

■ Ernestine Zielke, streitbare Bremer Schauspielerin, las im Verborgenen bzw. auf der Frauenwoche

Ist ja unsere gute alte Ernestine, mögen sich die Frauenwöchnerinnen gedacht haben, die sieht das nicht so eng, wenn der Theatersaal erstmal lange verschlossen bleibt und auch für drinnen nichts vorbereitet ist. Was sind wir auch wenige: zehn Frauen! Da ein Aufwand? Stand eben leider nicht im Veranstaltungsüberblick, daß Ernestine Zielke, Bremer Schauspielerin, an diesem Dienstagabend aus ihren „Bagatellen einer Staatsbürgerin“ lesen würde.

Ernestine Zielke ist keine Zimperlingin. Klettert witzchenklopfend mit ihren 68 Jahren und dem steifen Kreuz auf die Bühne, und eine von uns sucht das Licht, damit sie auf der weiten Bühne nicht so verloren ist und sich ihr feuerrot theatralisches Cape drapieren kann. Endlich gibt's doch noch einen Stehtisch und zwei Klapperstühlchen, wobei sich das Problem ergibt: Soll die Künstlerin stehen mit oder sitzen ohne Tisch? Wasser zum Trinken scheint's in der Ödnis der Bremer Uni auch nicht zu geben. Ein würdelose Einlage der Organisation.

Ernestine Zielke ist einigen, aber noch viel zu wenigen, ein Begriff: engagierte Schauspielerin, zäh und zornig, anstrengend aufmüpfig, und rüttelnd an Zuständen, die nicht so sind, wie sie sein sollten. Mit ihrem Einfrauprogramm „Menetekel“ und „Der Widerspenstigen Zerstörung“ attackiert sie die Zurichtung der Frauen, engagiert sich darüberhinaus aktiv gegen die Ausweisung von EinwanderInnen und nennt das Verfahren Abtreibung. Vielleicht ist diese Unerbittlichkeit eine Art Wiedergutmachung ihrer Generation mit Vergangenheit in der Nazi-Zeit und der „Ungnade der frühen Geburt“.

Und da sitzt sie nun — einerseits ein bißchen eine mephistophelische Flickenschildt mit guttural abgründiger Patentheit, andererseits ein loderndes Warnzeichen mit diesem orangen Löckchengekringel — und will aus ihren „Bagatellen“ vorlesen. Aber einzwei Sätze zur aktuellen Politik müssen sein: Da demonstriert sie uns nicht nur mit Hilfe ihres Ghettoblasters die Eindeutschung von Mozarts Papageno-Arie in „Üb immer Treu und Redlichkeit“, sondern auch den Bezug scheinbar harmloser Politikersprüche zur Zwangs-Eindeutschung polnischer Mädchen während deutscher Besatzungszeit. Ist wieder, fragt sie mit Brecht, gerecht, was dem deutschen Volke nutzt? Eine unbehagliche Frage. Und eine viel zu selten gewordene Form spontanen politischen Diskurses von der Bühne herab.

Erst danach hat sie Zeit für ihre „Bagatellen“, lose Geschichten, die zusammen durchaus eine Autobiographie ergeben. Sie schreibt, um sich zu erinnern, wie Menschen zusammengelebt haben, und „um sich in ihrem Alter noch einmal darauf einzulassen, Ich zu sagen“, ein Abenteuer. Weil sie ja eine von denen war, die als Volk zu fühlen gelernt hat

hierhin bitte das Foto

von der alten Frau

mit Umhang

Ernestine Zielke: „Ich soll keine Briefe mit 'Ich' anfangen“Foto: Almuth Bölitz

und sich ein Ich mühsam erleiden mußte:

“Ich soll keine Briefe mit Ich anfangen, habe ich gelernt. Nicht: –Ich habe mich über deinen Brief gefreut', sondern –Über deinen Brief habe ich mich gefreut'. (...) Ein paar Sätze gab es, die mit Ich anfingen: Ich bin nichts, mein Volk ist alles. Ich schwöre dem- Kaiser-dem-Führer-der-Fahne- Treue-und-Gehorsam“, so beginnen ihre Lebens-Geschichten.

Und wir sitzen eine knappe Stunde still und spüren, daß man Frieden mit sich möglicherweise verdienen muß.

Claudia Kohlhase