: Waigel und Möllemann loben ihre Kritiker von den Wirtschaftsinstituten
■ Herbstgutachten bemängelt schlampige Haushaltspolitik des Bundes/ Ostdeutsche Löhne zu hoch?
Bonn (dpa/ap/taz) — Zu Beginn der besinnlichen Jahreszeit bekommt die Bundesregierung alljährlich Stoff zum Nachdenken. Die Wissenschaftler der fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, die das Jahr über jeder für sich die Wachstumskurven der unterschiedlichen Wirtschaftszweige beobachten, werfen ihre Erkenntnisse zusammen und sprechen in ihrem Herbstgutachten bedächtig Empfehlungen an den Wirtschafts- und den Finanzminister aus. Besonders kritisch pflegen sie dabei die Löhne unter die Lupe zu nehmen und meist für zu hoch zu befinden — besonders in diesem ersten Jahr der deutschen Einheit.
Ohne eine „drastische Wende“ in der Lohnpolitik, erklärten sie gestern bei der Vorstellung ihres diesjährigen Herbstgutachtens, drohe der deutschen Wirtschaft in den kommenden Jahren der Absturz von dem „sehr schmalen Grat, auf dem ein angemessenes Wachstum erreichbar ist“.
Gewerkschaften und Arbeitgeber sollten in der kommenden westdeutschen Tarifrunde erheblich niedrigere Abschlüsse vereinbaren, höchstens vier Prozent halten die Wissenschaftler für vertretbar. Bisher allerdings habe die Vereinigung die deutsche Wirtschaft nicht überfordert, befand der Sprecher der Institute, Prof. Willi Leibfritz. Die Flaute der westdeutschen Wirtschaft werde im zweiten Halbjahr 1992 überwunden werden. Im Osten sei eine Wachstumsrate von zehn Prozent zu erreichen. Die Arbeitslosigkeit werde allerdings bis Mitte des Jahres weiter steigen.
Die bereits vereinbarten Tarifabschlüsse in den neuen Ländern sollen nach Meinung der Wissenschaftler nochmal neu verhandelt werden, um nicht automatisch eine stufenweise Anpassung der Löhne an das Westniveau zu vollziehen. Dabei sollte ein deutlich niedrigerer Lohnanstieg vereinbart werden, der näher beim Produktivitätsanstieg in Ostdeutschland liegen müßte. Die Gutachter unterstreichen, eine wirkliche Überwindung der Teilung zwischen Ost- und Westdeutschland sei nicht durch eine reine Einkommensumverteilung, sondern nur durch das Entstehen von Einkommen durch Produktion zu erreichen. Bliebe es bei dem derzeitigen Tempo der Lohnapassung in den neuen Ländern, könnten lediglich „Inseln hoher Produktivität“ entstehen, die überwiegend von westlichen Investoren aufgebaut würden. Ansonsten bliebe Ostdeutschland eine extrem strukturschwache Region.
Die Institute kritisierten die Bundesregierung dafür, daß es ihr selbst in Zeiten boomender Konjunktur nicht gelungen sei, Vergünstigungen für einzelne Gruppen abzubauen und so den Staatshaushalt zu sanieren. Daß die CDU/CSU/FDP-Koalition lieber allgemein die Steuern erhöht, halten die Wissenschaftler für die schlechtere Alternative, das Defizit abzubauen.
In ihrer Konjunkturprognose gehen die fünf Institute davon aus, daß die Talfahrt der ostdeutschen Wirtschaft zwar gestoppt ist, „ein stürmischer Aufholprozeß“ aber noch nicht eingesetzt hat. Demnach wird die ostdeutsche Wirtschaftsleistung in diesem Jahr noch um 19 Prozent absacken, aber dann 1992 die Wende mit einem Plus von gut zehn Prozent einleiten. Von einem zügigen Durchschreiten der Talsohle könne keine Rede sein, zu Resignation bestehe aber kein Anlaß — auch wenn eine Erholung am ostdeutschehen Arbeitsmarkt dem Gutachten zufolge noch länger auf sich warten lassen wird. Während 1991 im Jahresdurchschnitt 0,95 Millionen Arbeitslose registriert sein dürften, werde diese Zahl im Durchschnitt 1992 bei 1,4 Millionen liegen. Das entspricht einer ostdeutschen Arbeitslosenquote von 18,9 Prozent. Optimistisch äußerten sich die Gutachter über die westdeutsche Konjunktur. Das Bruttosozialprodukt werde real um 3,5 Prozent in diesem Jahr und 1992 um zwei Prozent wachsen.
Die für ihre Politik kritisierten Bundesminister lobten gestern das Herbstgutachten. Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) forderte energische Schritte zur Haushaltskonsolidierung, für die sein Finanzministerkollege Theo Waigel (CSU) zuständig wäre. Der wiederum lenkte von seinem Job ab und verlangte die „strikte Begrenzung der Ausgaben“ — von den Ländern und Gemeinden. Donata Riedel
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