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Der Neuanfang wird von Frauen bezahlt

■ Die Umstrukturierung und Neubesetzung an der Humboldt-Universität geht vor allem auf Kosten der Frauen/ Die Wissenschaftlerinnen werden in die Arbeitslosigkeit, in minder qualifizierte Positionen oder in die Familie gedrängt

Mitte. Früher hätten westdeutsche Hochschullehrerinnen ihre östlichen Schwestern beneidet. Auf allen wissenschaftlichen Qualifikationsstufen hatten die DDR-Akademikerinnen gegenüber der alten Bundesrepublik einen Vorsprung. An den Ostberliner Hochschulen betrug der Anteil der Frauen im Mittelbau vor der Wende rund 38 Prozent. In West- Berlin dagegen nur 11 Prozent. Die Dozentinnen waren in beiden Stadthälften mit rund 10 Prozent etwa gleich stark vertreten, aber bei den Professorinnen zeigten sich gewaltige Differenzen: die hochdotierten und mit Macht ausgestatteten C4-Professuren wurden im Westen gerade mal von 2,4 Prozent Frauen belegt, im Osten dagegen saßen immerhin mehr als doppelt so viele Professorinnen auf vergleichbaren Posten. Seit die ostdeutschen Hochschulen und Universitäten nach ihren westlichen Vorbildern umstrukturiert werden, erobern nun auch dort Männer die ihnen von jeher angestammten Plätze im Wissenschaftsbetrieb. An der Humboldt-Universität werden zur Zeit die geisteswissenschaftlichen Fachbereiche komplett umstrukturiert. Nach den Plänen des Wissenschaftssenators sollen die Stellen im Mittelbau um 70 Prozent reduziert werden. Das trifft in erster Linie die Frauen, denn in Fächern wie Jura, Erziehungs- oder Sozialwissenschaften war der Frauenanteil im Mittelbau mit teilweise über 50 Prozent extrem hoch.

»An den Fachbereichen herrscht große Ratlosigkeit. Viele wissen nicht, wie's weitergeht«, sagt Kerstin Brackasch. Vor der Wende hat die 29 Jahre alte Erziehungswissenschaftlerin an der medizinischen Fachschule in Friedrichshain gearbeitet. Vor vier Jahren wurde sie an die Uni geschickt, um ein Zusatzstudium in Medizinpädagogik zu absolvieren. Das Diplom hat sie nun in der Tasche, aber die Fachschule braucht sie jetzt nicht mehr.

Nun wartet sie auf eine ABM- Stelle an der Humboldt-Universität. Ina Hinz, ebenfalls Erziehungswissenschaftlerin, hat der Uni von sich aus den Rücken gekehrt und eine Stelle in einem Beratungsprojekt angenommen. »Die unsichere Situation, der Druck, morgen auf der Straße zu stehen«, habe eine große Rolle gespielt, meint die promovierte Psychologin.

Am Fachbereich Erziehungswissenschaften ist ungefähr die Hälfte der Frauen bereits freiwillig gegangen. Wie zur Zeit mit den Wissenschaftlerinnen umgesprungen wird, sei einfach demütigend, sagt Marion Bönsch-Kauke, die nebenamtliche Gleichstellungsbeauftragte und Prodekanin des Fachbereichs. Seit kurzem entscheidet im wesentlichen der Gründungsdekan über die Zukunft der Ostwissenschaftlerinnen. In der vergangenen Woche seien 30 Kündigungen beschlossen worden. Die Herren hätten es nicht für nötig befunden, die Gleichstellungsbeauftragte darüber zu informieren. Marion Bönsch-Kauke, die derzeit als C2-Professorin Psychologie lehrt, fühlt sich regelrecht kaltgestellt. Weder im Fachbereichsrat noch in der Struktur- und Berufungskommission ist sie oder eine andere Frau, die sich für die von Kündigungen bedrohten Wissenschaftlerinnen einsetzt, vertreten. In der vergangenen Woche mußte sie sogar ihr Zimmer für einen Westprofessor räumen. Auch bei den Bewerbungen um die C4-Professuren bekommen die Ostberliner Frauen zu spüren, daß sie Wissenschaftlerinnen zweiter Klasse sind. Marion Bönsch-Kauke hatte sich auf eine solche Stelle beworben und wurde abgelehnt. Die Begründung: sie habe ja kaum etwas veröffentlicht. Daß Lehrende an Universitäten der DDR durch staatliche Reglementierung weit weniger publizierten als in Westdeutschland oder sowieso Veröffentlichungsverbot hatten, wirkt sich bei den Bewerbungen als Nachteil aus. Niemand weiß zur Zeit genau, wieviel Frauen Monat für Monat aus dem Wissenschaftsbetrieb verschwinden. Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind allerdings denkbar gering. In der Statistik der schwervermittelbaren Arbeitslosen stehen sie an dritter Stelle.

Gisela Petruschka, hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte an der Humboldt-Universität, beobachtet die Tendenz, daß jüngere Wissenschaftlerinnen nach neuen Berufsfeldern suchen. Einige lassen sich zu Fremdsprachensekretärinnen umschulen, andere wandern in die Versicherungsbranche ab. Für die älteren promovierten und oft auch habilitierten Oberassistentinnen ist die Kündigung katastrophal, ebenso für alleinstehende Mütter mit Kindern und Ausländerinnen. Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind gleich null. Seit zwei Jahren beschäftigen sich drei Wissenschaftlerinnen vom abgewickelten Zentralinstitut für Hochschulbildung in Berlin-Karlshorst mit den besonderen Problemen von Akademikerinnen. Was sich auf die Frauen verheerend auswirke, sei die veränderte gesellschaftliche Wertung von Männerarbeit und Frauenarbeit. Wissenschaftlerinnen, denen der Beruf vor der Wende ebenso wichtig war wie die Familie, bekommen nun immer häufiger zu hören: »Sei froh, daß du arbeitslos bist, dann kannst du dich endlich um die Kinder kümmern.«

Für Gisela Pätzold war Beruf und Familie nie ein Widerspruch. Sie kann sich ein Leben ohne die Wissenschaft überhaupt nicht vorstellen. Die 57 Jahre alte Professorin und Wissenschaftstheoretikerin hat eine klassische sozialistische Karriere hinter sich. Zunächst eine Lehre als Maschinenschlosserin, dann ein Studium, und ab 1968 hat sie den inzwischen abgewickelten Fachbereich Wissenschaftstheorie und Organisation (WTO) mit aufgebaut. Nun hofft auch sie auf eine der 700 ABM-Stellen an der Humboldt-Universität.

»Was derzeit mit den Frauen passiert, kommt einem wissenschaftlichen Kahlschlag gleich«, ereifert sich Gisela Petruschka. »Viele qualifizierte Wissenschaftlerinnen werden uns verlorengehen.«

Marlies Schneider, ebenfalls vom Fachberich WTO, blickt besorgt in die Zukunft. »Wenn in zwei Jahren unsere ABM-Stellen ausgelaufen sind, stehen wir wieder ohne Arbeit da.« Und dann, befürchtet sie, wird sich niemand mehr um arbeitslose Wissenschaftlerinnen kümmern. Burgel Langer

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