Freie Sicht für freie Bürger

■ Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist ein halbherziger Anfang - wir brauchen ein FOIA

Freie Sicht für freie Bürger Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist ein halbherziger Anfang — wir brauchen ein FOIA

In Superlativen schwelgte Joachim Wagner am Donnerstag abend in seinem ARD-Tagesthemen-Kommentar nach der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes: Das habe es weltweit noch nie gegeben — ein Staat öffne seine Archive. Und weiter: „Ein im besten Sinne gesamtdeutsches Gesetz.“ Nationales Pathos darf heutzutage bei einem solchen Anlaß wohl nicht fehlen.

Wagner sagte die Unwahrheit. Vielleicht aus Unkenntnis? Nach der Niederlage in Vietnam und dem Nixon-Watergate-Skandal wurde in den USA ein Akteneinsichtsgesetz für Betroffene durchgesetzt — der Freedom of Information Act (FOIA). So konnte zum Beispiel bewiesen werden, daß das FBI die Black Panther Partei und die Socialist Workers Party infiltriert hatte. Dieses Gesetz gibt dem betroffenen Bürger der USA immer noch weitergehende Rechte als sie uns jetzt (für die Stasi-Akten) versprochen werden. Das Wichtigste ist in den Debatten der letzten Wochen überhaupt nicht gesagt worden: Die Stasi der Ex-DDR liegt im wesentlichen hinter uns, aber die Staatssicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist, wie immer sie sich nennt, unsere Gegenwart.

Die Bundestagsabgeordnete Ingrid Köppe (Bündnis 90/Grüne) beklagte für die Opposition die Möglichkeit, daß nun auch Strafverfolgungsbehörden und Staatsschutzbehörden die Stasi-Akten auswerten können. Als ob diese Art von Behörden sich je in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland am Zugang zu Akten in ihrem Machtbereich hätte hindern lassen! Auch die Abgeordnete Ingrid Köppe könnte das wissen, sie müßte nur die Berichte der Datenschutzbeauftragten oder die Stammheim-Akten lesen.

Dem vorgeschobenen Zensur-Geschrei der Presse zufolge, war das Hauptproblem des neuen Gesetzes, die freie Presse solle gehindert werden, frei (über Stasi-Fälle) zu berichten. Als ob sich diese freie Presse je an freier Berichterstattung hindern ließe! Unser Bundesverfassungsgericht wird es schon richten — spätestens. Oder wer war es, der zum Beiswpiel im Schmücker-Prozeß die Rolle der Verfassungsschutz-Staatssicherheit aufdeckte? Und wieso bekommen die Anwälte aus dem Schmücker-Prozeß eigentlich keine Bürgerrechtspreise? Wer über die „Stasi-Krake“ schwadroniert und nicht von der bundesrepublikanischen Staatssicherheit reden will, hätte besser geschwiegen. In der 700jährigen Schweiz wurde neulich bekannt, wieviele „Fishes“ die Staatspolizei über schweizer Bürger angelegt hatte, waren es nun Akten über zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung — oder noch mehr? Ist es ganz unverschämt, wissen zu wollen, wieviele Kilometer Akten über wieviele Personen der Bundesverfassungsschutz führt, wieviele Mega-Bytes gespeichert sind?

Zu spät ist es noch nicht. Immer wieder wurde in der Bundestags-Debatte angekündigt, das Stasi- Gesetz müsse sicher im nächsten Jahr novelliert werden. Vielleicht entschließt sich die Opposition im Bundestag doch noch, den angeblichen Konflikt zwischen „Opferrechten“ und „Behördennutzungsrechten“ (Köppe) auf sich beruhen zu lassen und statt dessen endlich das umfassende, auf alle bundesrepublikanischen Ämter zielende Gesetz einzubringen, das jedem Bürger und jeder Bürgerin das Recht gibt, alle sie betreffenden Akten bei öffentlichen Behörden einzusehen. Wie einfach! Wie einsichtig!

Längst ist eine radikaldemokratische Kampagne für freie (Akten-)Einsicht für freie Bürger fällig. Das interessiert Steuerhinterzieher und Ungeborenenmörder, Kredithaie und -heringe, weiße Kragen und Hacker, Atomkraftgegner und Waffenexporteure, Klein- und Großhändler, Dealer und Süchtige, Huren und Zuhälter, Sozialhilfeempfänger und Subventionsschwindler, Streikposten und illegale Einwanderer — kurz und gut: uns alle.

Niemand kann sagen, die Staatssicherheit der BRD sei mit der Stasi identisch. Da sei der Rechtsstaat vor! Aber vergleichen wird man dürfen. Und wie sollen wir vergleichen ohne freie (Ein-)Sicht, ohne bundesrepublikanisches FOIA? K.D. Wolff

Der Autor war in der Zeit der westdeutschen Studentenbewegung 1967/68 Bundesvorsitzender des SDS. Er lebt heute in Frankfurt am Main und ist Verleger von Stroemfeld/Roter Stern.