: Ratlosigkeit in der Ordnung
Marc Rufer: „Wer ist irr?“ ■ Von Waltraud Freese
Marc Rufer, Arzt und Psychotherapeut in Zürich, hat sein zweites psychiatriekritisches Buch verfaßt. Wer ist ist irr? versammelt fünf Essays, die aus unterschiedlichen Perspektiven problematische Seiten der Gegenwartspsychiatrie beleuchten. Zwei „fiktive“ (Rufer-)Geschichten bilden hierfür den Rahmen; der als schizophren diagnostizierte Eugen, der „manische“ Martin.
Wenn hier die Innenansicht von zwei Menschen, die — je unterschiedlich — an sich und ihrer Umwelt, vor allem aber an einer keineswegs spektakulären, sondern tagtäglich praktizierten Behandlung leiden, offenbart wird, stellt sich so eine sinnvolle Verknüpfung zu den fünf Abhandlungen her. Mögen psychiatriekritische Gedanken gesamtgesellschaftlich gegenwärtig eher randständig sein, es geht dabei eben nicht nur um Theorie, sondern vor allem um eine Praxis, die Menschen nicht heilt, sondern zurichtet (Eugen) oder vernichtet (Martin).
Wenn Rufer dann in seinem Aufsatz Von der Produktion der „Geisteskrankheiten“ durch die Psychiatrie dem medizinisch-biologischen Modell der Psychiatrie einen vorwiegend soziologisch orientierten Deutungsversuch gegenüberstellt, so ist dies weder neu — der Autor selbst verweist auf Goffmann und Scheff, beide entwickelten ihre soziologische Perspektive in den Vor- 68ern — noch wird sie von „fortschrittlichen“ Psychiatrietätigen geleugnet; theoretisch ist sie in ein (verwässerndes) multikausales Modell eingebaut.
Praktisch jedoch gilt insofern das medizinisch-biologische Modell, als inner- und außerhalb der Anstalt pharmakologisch „operiert“ wird, sozialarbeiterische und psychologische Aktivitäten werden eher zu Erfüllungsgehilfen.
„Die Psychiatrie hat ihre Unschuld endgültig verloren“, so postuliert es Rufer in seinem zweiten Essay. Angefangen von der Ratlosigkeit des Emil Kraepelin, den — zu Beginn seiner Tätigkeit — abstoßende Bilder aus der Münchner Kreis-Irrenanstalt noch in den Nächten heimsuchten, der die Wut, Verzweiflung, Resignation und Klage seiner Patienten nicht aushalten konnte, so daß er sich unter anderem durch Ordnen, Bestimmen, Klassifizieren, Beobachten schützte und die Idee der Krankheitseinheit entwickelte. Kraepelin legte — um die Jahrhundertwende — die Grundlage für das bis heute gültige Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (ICD), das eine kulturübergreifende Übereinstimmung seelischer Krankheit suggeriert.
Die „Ratlosigkeit“, die Kraepelin in seinen Lebenserinnerungen zugibt, die eingeschränkte Wahrnehmung, die er als Bewältigungsmechanismus einsetzte, hat sich heute bei langfristig in der Psychiatrie Tätigen gehalten, denn — so sieht es Rufer — nur mit abgestumpften Gefühlen läßt sich diese Arbeit überhaupt ertragen. Früher wurden Deckelbad, Elektrizität, Schocktherapie mittels Cardiozol und Insulin und schließlich das Messer des Psychochirurgen eingesetzt. Heute sind es wiederum vermehrt Elektroschocks, vorwiegend jedoch Neuroleptika — in ihrer Auswirkung und Langzeitwirkung für die Patienten keineswegs humaner.
Wenn sich der Blick des Autors rückwärts richtet, wenn er die Unschuld der Psychiatrie in Frage stellt, läßt sich das dunkelste Kapitel der Vergangenheit nicht ausklammern. Als Schweizer interessieren ihn Geschichte und Aktualität der Erbbiologie in der Schweizer Psychiatrie; dieser geht er in seinem AufsatzDer Balken im Auge: Rassismus und Psychiatrie nach.
Die unaufgearbeitete Geschichte wirkt diesseits und jenseits der Grenzen und Mauern. Es genügt nicht mehr, die Massenermordung der Psychiatriepatienten während der NS-Zeit zwar wahrzunehmen, über die Humangenetik jedoch ein Feigenblättchen zu halten. Deren Resultate und Konsequenzen wurzeln ja ebenfalls in der Rassenhygiene des NS-Staates.
Wenn Rufer im vorangegangenen Essay die historische Verbindung von Rassismus und Psychiatrie aufdeckt und davor warnt, den Massenmord an PsychiatriepatientInnen im NS-Staat als spezifisch und ausschließlich deutsches Problem abzutun, wenn er feststellt, daß der Genozid an den Juden auf der Grundlage derselben eugenischen Vorstellungen stattfand, so dient ihm ein weiterer Beitrag zur Vertiefung der Fragestellung, inwieweit ethnischer Rassismus und Theorie und Praxis der Psychiatrie miteinander übereinstimmen. Am Ende steht die Erkenntnis: Ethnischer und psychiatrischer Rassismus sowie Sexismus sind Biologismen. Pseudowissenschaftliche Begründungen ermöglichen die Unterdrückung von ungezählten Menschen. Aber: „...Menschen, die in den Machtbereich der Psychiatrie geraten, dürfen das Ziel, eine Widerstandshaltung zu erlangen, nie aufgeben. Es darf nicht vergessen werden, daß auch unter extremen Bedingungen die Möglichkeit besteht, sich zu wehren. Und weil dies für Psychiatriebetroffene so enorm schwierig ist, bedarf es der Solidarität der Nichtbetroffenen.“
Im letzten Essay schließlich Sadomasochismus und Psychiatrie, stellt Rufer nicht nur die der Psychiatrie bis heute immanenten Strukturen, sondern vor allem den Berufscharakter der in ihr als Psychiater Tätigen ins Zentrum seiner Betrachtung. Zugrunde legt er Überlegungen von Erich Fromm zum „sadistischen Charakter“ und geht beispielsweise von der Annahme aus, daß „sadistische Menschen“ sich von der Psychiatrie und ihren Praktiken angezogen fühlen. Wenn Fromm feststellt, daß das „Charakteristikum der sadistischen Herrschaftsausübung (...) darin besteht, daß in ihr der Beherrschte zum willenlosen Objekt des Beherrschenden wird“, so sagt Rufer zwar, daß nicht jede(r) Psychiatriebetroffene ein willenloses Objekt ist, die Psychiatrie aber diesen Zustand unter dem Deckmantel der Sorge um die Patienten erzeugen kann: „Wer einmal Menschen, die mit hohen Neuroleptika-Dosen ,behandelt‘ werden, unvoreingenommen betrachtet hat, der kann nie mehr darüber hinwegsehen.“
Neben den Essays zeigt Rufer in den Leidenswegen von Eugen und Martin mit großer Sensibilität, daß „psychotisches“ Erleben einfühlbar ist, daß es manchmal nur ein kleiner Schritt ist, der über die Grenze zwischen normal und abnorm führt. Wer ist irr? ist (auch) ein — lesenswertes — Pamphlet.
Marc Rufer: Wer ist irr? , Zytglogge Verlag, Bern, 224 Seiten, 31DM
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