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Manipuliert, verwirrt und kopflos

Die Briten stolpern nach Europa/ Zwischen Fremdenhaß und simplizistischen Vorstellungen von Souveränität  ■ Von Patrick Wintour

Eindringlich warnen sie vor der „Vergewaltigtung Großbritanniens“, schließlich drohe ein neuer „deutscher Eroberungsfeldzug“, der wieder in eine „Schlacht um England“ münden werde — die Rhetorik der britischen Europa-Gegner läßt das Blut gerinnen, die Vehemenz, mit der sie vorgebracht wird, beängstigt. Es wäre jedoch falsch, alle britischen Anti-Föderalisten — es gibt sie sowohl bei den Tories als auch bei den Labours — als Fremdenhasser abzutun. Die britische Debatte über die europäische Integration ist vielmehr bestimmt von einer anhaltenden Identitätskrise.

Auch Teile der Linken machen sich aufrichtige Sorgen über den Verlust der Souveränität. So beklagt der frühere Labour-Minister Peter Shore: „Die Kontrolle der Regierung über die Wirtschafts- und Währungspolitik sowie Außen- und Sicherheitspolitik sollen an den EG- Ministerrat und das Europaparlament übergehen. Nachdem dies einmal geschehen ist, wird es so gut wie unmöglich sein, den Beschluß wieder aufzuheben oder zu verändern. Diejenigen, die dann die Entscheidungen treffen, werden dem britischen Volk gegenüber nicht rechenschaftspflichtig sein.“ Alle diese demokratischen Argumente sind legitim. Sie basieren aber auf vereinfachten Vorstellungen von Souveränität, vor allem soweit es den Mythos betrifft, der britische Schatzmeister habe im Moment eine Entscheidungsgewalt über den Sterling. Aber es gibt auch ernsthafte Debatten darüber, ob diejenigen, die in der Gemeinschaft Macht ausüben, rechenschaftspflichtig bleiben.

Unglücklicherweise ist diese Frage nicht das Hauptanliegen der Europa-Gegner. Wer das Gedankengut von Frau Thatcher und ihren engsten Beratern kennt, weiß, wie sehr sie der deutschen Psyche mißtrauen. Bitter beklagt sich der ehemalige Minister Nicholas Ridley in seinem letzte Buch über die deutsche Einigung: „Die Deutschen haben sich ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten ihrer Nachbarn und Konsequenzen für das internationale Staatengefüge auf ihre Einheit konzentriert. Die Gemeinschaft mußte zwar bei Laune gehalten werden, aber sie hat jetzt nicht mehr Einfluß auf die Deutschen als der Völkerbund über die Nazis 1936.“

Dies ist zwar nicht die Position von John Major, der offensichtlich ein gutes Verhältnis zu Kanzler Kohl entwickelt hat. Aber ein Gutteil der konservativen Hinterbänkler ist von der deutschen Frage geradezu besessen. Ihr Meinungsführer Bill Cash sagt dazu: „Statt sich freiwillig in eine supranationale Struktur einschließen zu lassen, mit der sie unter Kontrolle gehalten werden könnten, wollen die Deutschen nun den Schlüssel dazu in die Hand bekommen. Schon wird deutlich, daß Deutschland immer anmaßender auftritt, sei es bei der Währungsunion, der politischen Union oder bei außenpolitischen Problemen wie Jugoslawien.“ Konzessionen in Maastricht wären deshalb „unwiderrufliche Schritte hin zu einer von Deutschland dominierten Union“.

Major hat nicht die Statur, solchen Ängsten entgegenzutreten. Er stieg in die Parteispitze auf, ohne nennenswerte Eindrücke zu hinterlassen. Seit seiner Machtübernahme vor über einem Jahr ist er mindestens so beschäftigt, die Partei bis zu den Wahlen im Frühjahr zusammenzuhalten wie eine Formel zu finden, mit der Großbritannien unbeschadet ins 21. Jahrhundert manövriert werden kann. Dies ist zum Teil auf eine unglücklich Terminplanung zurückzuführen. Wenn Maastricht unmittelbar nach den nächsten Wahlen stattfinden würde, könnte Major vielleicht freier seine Meinung äußern. Auch dann würde er allerdings stolpern. Denn Major ist durch und durch grau, voller Banalitäten und Binsenwahrheiten. Er personifiziert das Klischee des pragmatischen Gentleman mit steifer Oberlippe. Kein Wunder, daß Labour-Chef Neil Kinnock klagt: „Wir marschieren nicht nach Maastricht, wir lassen uns hintreiben.“

Dies führt dazu, daß die britische Öffentlichkeit demoralisiert und verwirrt wird. Ohne wirkliche Führung greift sie auf die natürliche kleinbürgerliche Abwehrhaltung zurück. In einer kürzlichen Umfrage waren 44Prozent gegen eine gemeinsame Währung, nur 34Prozent stimmten dafür. Als sie jedoch gefragt wurden, ob sie auch so reagieren würden, wenn ihre politischen Führer im Rahmen eines Referendums für eine gemeinsame Währung aufträten, kam es zu einem gegenteiligen Ergebnis. Fazit: die britische Öffentlichkeit ist nicht nur manipulierbar, sondern verwirrt und kopflos.

Schuld an der Verführung zum Nationalismus sind zum Teil sicher die britischen Politiker. Aber auch die Europäische Gemeinschaft und die britischen Medien sind dafür verantwortlich. Letztere erklären selten Einzelheiten der für Maastricht vorbereiteten Pläne. Zum Teil liegt dies an der Gemeinschaft, die die Verhandlungen geheim halten möchte, zum anderen Teil an der Presse selbst, die nur in der Lage zu sein scheint, die Schwierigkeiten als Konflikte zwischen Persönlichkeiten und Rivalitäten zwischen Nationen darzustellen. Die Tory-Presse ist entschlossen, Major zu „helfen“ und erfindet Geschichten über Heldentaten des Premiers bei den Verhandlungen, wo er angeblich deutsche Angriffe abwehrt, die nach Erklärungen aus der Downing Street nie stattgefunden haben.

Falls, wie es jetzt wahrscheinlich ist, Großbritannien unwillig, uninformiert und ohne Führung nach Europa stolpert, wird niemand davon profitieren, am wenigsten Europa.

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