: Neues Feindbild an der Südfront
■ Die Europäische Gemeinschaft aus der Perspektive der Maghreb-Staaten
Scheich Abassi Madani, Chef der algerischen Radikal-Islamisten, setzte mir in zwei langen Gesprächen seinen Gesellschaftsentwurf auseinander. In vier Worten: Scharia, High- Tech, sozialer Ausgleich und wirtschaftlicher Liberalismus. Europa? „Die EG ist unser natürlicher Partner. Ausländische Investoren sind willkommen. Aber wir streben gerechte Beziehungen an. Europa ist dazu noch nicht bereit. Es hat sich von seiner mediterranen Identität abgewandt und in einen merkwürdigen Fortschrittsbegriff verrannt. Europa ist atlantisch geworden. Und der Osten absorbiert seine ganze Aufmerksamkeit.“
Inzwischen sitzt Abassi Madani im Militärkerker von Blida, und in Maastricht macht das „germanisch- protestantische Europa“ (ein Pariser Diplomat) seinen nächsten Schritt zur wirtschaftspolitischen Einheit. Die europäischen Gewichte haben sich gen Nordosten verschoben. Marokkos Beitrittsgesuch zur EG (1986) vermodert, tief in Brüsseler Papier vergraben.
„Wir müssen erkennen“, sagt ein Mittelmeer-Stratege im Quai d'Orsay, „daß die Bruchstelle Mittelmeer — ich nenne sie die Südfront — für die Sicherheit in Europa die gleiche Bedeutung hat wie der Frieden zwischen Deutschland und Frankreich.“
Den Mann treibt die Angst vor der Immigration. Bisher bauen 3,5 Millionen MaghrebinerInnen am europäischen Aufschwung. Verbessern sich die Lebensbedingungen bei ihnen nicht sehr schnell, so die Prognose, könnten die verarmten Massen des Südens das ihre leicht direkt im Norden einfordern. Die maghrebinischen Regimes sind im Würgegriff des Schuldendienstes. Die fünf Länder der Maghreb-Union (UMA) hängen im Außenhandel zu 70 Prozent von der EG ab.
„So erfüllt der Süden“, schrieb der kürzlich verstorbene tunesische Diplomat Hamadi Essid in seinem letzten Artikel, „zunehmend, was ihm der Norden zugedacht hat: die Rolle des Feindbildes, das die Bedrohung aus dem Osten ersetzt.“
Europas Investoren sollen nun die projizierte Flut über den „Rio Grande Europas“ ('Repubblica‘) abwehren, nach japanischem Vorbild: Statt Arbeitskräfte zu importieren —wünschen immer mehr südeuropäische Politiker—, sollen die Patrons in Nordafrika investieren und so in einem Zuge den Immigrationsdruck und die islamistische Gefahr bannen.
Unter der Fuchtel des IWF haben die maghrebinischen Regierungen die notwendigen Voraussetzungen geschaffen. Algerien etwa liberalisierte in weniger als zwei Jahren seine ganze Wirtschaft. Die Unternehmer indes zeigen sich renitent, von den forschen Italienern (und den Japanern) abgesehen. Allein der Verkauf algerischer Ölförderrechte interessierte kurzzeitig die französischen Investoren.
So bleibt's vorerst beim Ausbau der politischen Kontakte. EG und UMA treffen sich regelmäßig. Die Protokolle fallen meist zu Ungunsten der Maghrebstaaten aus. Sie konnten nicht einmal die Senkung der EG- Zölle für ihre Produkte erwirken. Mehr versprechen sich die Maghrebiner von der Konferenz „5+5“, die seit dem 10.Oktober 1990 die Anrainerstaaten des westlichen Mittelmeeres zusammenführt (Portugal, Spanien, Frankreich, Italien, Malta einerseits; Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen andererseits). Die Unterhändler waren sich beim letzten Treffen in Algier einig, Anfang des Jahres eine Außenminister-Konferenz zum Thema Immigration abzuhalten. Ein Vorschlag Gianni de Michelis, „5+5“ in eine veritable „Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeer“ zu wandeln, fand allerdings keine Gnade. Oliver Fahrni
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