: Die doppelt vergessenen Opfer
Der Bundestag berät das Unrechtsbereinigungsgesetz, das die Opfer der Stalin-Ulbricht-Honecker-Diktatur entschädigen soll/ Doch etliche fallen durch die Maschen des Gesetzes ■ Von Anita Kugler
Berlin (taz) — Im Februar 1945 flieht Eva Maria St., 17 Jahre alt, vor den näherrückenden Kämpfen aus ihrem Heimatort Grochow in Richtung Oder. Die Überschreitung des Flusses gen Westen wird dem Flüchtlingstreck, in dem sich Eva Maria St. befindet, von der deutschen Feldgendarmerie verboten. Das Dorf östlich der Oder, das ihnen als Aufenthaltsort zugewiesen wird, wird wenig später von der Roten Armee eingenommen.
Im März 1945 arbeitet die 17jährige als Zwangsarbeiterin auf einem Bauernhof und wird wenig später zum Flughafen Kriescht/Großfriedrich getrieben. Auf dem Flughafen wird das Mädchen geschlagen und vergewaltigt und danach ohne Anschuldigung von russischen Militärs verhaftet. Über Warschau und Moskau wird Eva Maria St. nach Sibirien deportiert und leistet dort unter härtesten Lagerbedingungen Zwangsarbeit. Im Oktober 1949 wird sie in die eben gegründete DDR entlassen.
Doch ihr Leidensweg ist damit nicht zu Ende. In den 50er Jahren sperrt die politische Polizei sie mehrfach in Untersuchungshaft und erteilt ihr schließlich ein Berlin-Verbot. 1968 protestiert sie gegen den Einmarsch in die CSSR und wird deshalb von der Außenhandelsfirma, in der sie als Dolmetscherin arbeitet, in eine untergeordnete Behörde zwangsversetzt. Auch diese Arbeit verliert Eva Maria St., als ihr Bruder 1973 wegen eines Republikflucht- Versuchs festgenommen wird. Sie schlägt sich als Hilfsarbeiterin durch, mehrere Ausreiseanträge werden abgelehnt, 1983 wird sie als Invalidin vorzeitig auf Rente gesetzt. Auch jetzt darf sie entgegen dem DDR-Reiserecht für Pensionäre das Land nicht verlassen. Ihre Post und das Telefon werden durch die Stasi bis zuletzt überwacht.
Die Auflösung der DDR bringt für die heute 64jährige nicht die erhoffte Rehabilitierung. Nach dem sogenannten „Unrechtsbereinigungsgesetz“ (UBG), das in erster Lesung Anfang Dezember den Rechtsausschuß des Bundestag passierte und laut Bundesjustizminister Kinkel im Frühjahr verabschiedet werden soll, erhält Eva Maria St. für all die Jahre des Leidens in Sibirien keinen einzigen Pfennig Entschädigung. Denn das Gesetz, geschaffen für die Opfer der Stalin-Ulbricht-Honecker-Willkür bis zum 9. November 1989, sieht vor, daß nur die Personen entschädigt werden sollen, die nach der Kapitulation Nazideutschlands am 8.Mai 1945 zu Unrecht verurteilt worden sind. All die Menschen, die wie Eva Maria St. in den letzten Kriegsmonaten verschleppt wurden, werden, wenn nicht der Gegenentwurf von Wolfgang Ullmann und dem Bündnis 90/Grüne im Bundestag verhandelt wird, leer ausgehen.
Nach Berechnungen der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ und der Berliner Hilfsorganisation „HELP“ leben heute in Ostdeutschland noch etwa 300 Personen, die in den letzten Kriegsmonaten auf ähnliche Weise in Sibirien verschwanden.
Aber damit nicht genug. Das in jetziger Form vorliegende UBG benachteiligt Eva Maria St. ein zweites Mal. Denn weil sie sich zu Zeiten Ulbrichts und Honeckers nicht mit dem Regime arrangierte und dafür mit Versetzung, Degradierung und zuletzt der Entlassung bestraft wurde, bekommt sie heute gerade einmal die Mindestrente von 600 DM.
Auf eine Entschädigung nach dem UBG kann sie nicht hoffen, weil ihre Repression nicht durch ein DDR-Gerichtsurteil festgeschrieben wurde. Nur wenn Eva Maria St. für ihren staatsbürgerlichen Ungehorsam nach dem Krieg interniert oder nach 1949 mit Haft bestraft worden wäre, hätte sie nach dem Entwurf des Bundesjustizministers Anspruch auf eine materielle Entschädigung. Pro Hafttag könnte sie eine einmalige Abfindung von 15 DM beantragen.
Gegen diese „lächerlichen Almosen“ und die Ausgrenzung von Berufsverbots- und „Boykottopfern“ protestierte am vergangenen Freitag in Berlin die „Allianz der Opfervereine kommunistischen Terrors“. „Will die Regierung das große geistige und damit politische Erbe des Widerstandes gegen die Stalin-Ulbricht-Honecker-Diktatur... einfach ignorieren“, fragen ihre Vorsitzenden Harald Strunz und Wolfgang Templin.
Gegen dieses neue Unrecht an den „vergessenen“ Opfern protestiert in einem offenen Brief an den Bundestag auch die Regisseurin und Schriftstellerin Freya Klier. Sie spricht im Namen einer ganzen Reihe von PublizistInnen und KünstlerInnen, darunter Ralph Giordano, Urs Jaeggi, Wolfgang Leonhard, Jens Reich und Lutz Rathenow.
Tausende von Frauen, schreibt sie, verschwanden nach Sibirien und starben dort an Typhus, Malaria, an der schweren Arbeit oder blieben, weil sie in den GPU-Lagern (Lager des russischen Geheimdienstes, d.Red.) wiederholt vergewaltigt worden waren, gebärunfähig. Die Frauen, die später in die Bundesrepublik kamen, erhielten einen Rentenzuschuß, Kuren und mitunter psychotherapeutische Behandlungen. Die Frauen hingegen, die in die DDR entlassen wurden, „stießen auf ein restloses Tabu ihres Leidens, was einer doppelten Bestrafung gleichkam“. Oft fielen sie aus dem „normalen“ Arbeitsleben heraus, entsprechend düster sehen heute ihre Rentenbescheide aus.
Jetzt, nach der deutschen Vereinigung, schreibt Freya Klier, scheinen sie ein drittes Mal büßen zu müssen. Diese Opfer, die „bis auf den heutigen Tag ohne Entschädigung geblieben sind“, werden im „Unrechtsbereinigungsgesetz“ mit keinem Wort erwähnt. Durch eine Rehabilitierung sollte ihnen Hilfe zuteil werden, endet der Brief an den Bundestag, und dies, „solange sie noch am Leben sind“.
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