: Die Nudel, der Schneemann und der Grabscher
Ein opulenter Rückblick auf das von sportlichen Großereignissen geschüttelte Olympiajahr 1992 ■ Von Matti Lieske
Courchevel, 16. Februar: Beim olympischen Springen auf der Großschanze düpiert Altmeister Matti Nykänen aus Finnland die gesamte Konkurrenz. Zwar sind die V-Springer, allen voran das sechzehnjährige finnische Supertalent Toni Nieminen, den „Klassikern“ wie Dieter Thoma haushoch überlegen, aber keiner springt so weit wie Nykänen mit seinem neuartigen S-Stil. Nach dem Geheimnis der innovativen Variante befragt, erläutert der bekannt lebenslustige Nordländer feuchtfröhlich: „Ganz einfach. Eine halbe Flasche Wodka vor jedem Sprung — und alles geht wie von selbst.“
Albertville, 17. Februar: Die Geschwister Duchesnay rücken ihrem ewigen Konkurrenzpaar Klimowa/ Ponomarenko bei den Olympischen Winterspielen diesmal auf besonders perfide Art zu Leibe. In ihrer neuen Kür symbolisieren sie zu den Klängen der amerikanischen und der sowjetischen Nationalhymne den Machtkampf Gorbatschow- Jelzin. Die Darbietung, bei der das „Star Spangled Banner“ gegen Ende vollständig die Oberhand gewinnt und unmerklich in die Version von Jimi Hendrix übergeht, ist von einem stetigen Schmelzen des Eises begleitet. Am Ende wird Isabelle Duchesnay, die sich für diese Kür extra die Haare abschneiden und die Landkarte von Kasachstan auf den Schädel tätowieren ließ, von ihrem Bruder Paul geohrfeigt, wirft sich zu Boden und unterschreibt die Rücktrittserklärung, die aus einem winzigen Rest Halbgefrorenem besteht. „Das ist unfair“, jammern Klimowa/Ponomarenko, die direkt danach aufs Eis müssen.
Val d' Isere, 22. Februar: Italiens Ski-As Alberto Tomba wird nach seinem Olympiasieg im Spezialslalom wegen unerlaubter Werbung disqualifiziert. Begründung: Seine Körperform sei dem Design eines besonders gelungenen Exemplares der „Penne rigate“ der Nudelfirma Barilla inzwischen derart ähnlich, daß ein Zufall ausgeschlossen werden könne. Tomba ist entsetzt: „Non sono pasta, sono Alberto“, beteuert er immer wieder und verweist auf Armin Bittner, der ungestraft einer Weißwurst aus dem Hofbräuhaus ähnlich sehen dürfe. Doch das IOC bleibt hart. Tombas Gold geht an Bittner, der vor dem Landgericht Kempten vorsorglich das Recht einklagt, wie eine Weißwurst aussehen zu dürfen.
Zürich, 2. März: Die FIFA gibt bekannt, daß sämtliche in Italien tätigen deutschen Fußballprofis mittlerweile dem FC Palermo gehören und ab 1. April dort zu spielen beziehungsweise — wegen der Drei-Ausländer-Regelung — wenigstens zu trainieren haben. Don Egidio Corleonone, der Präsident des FC Palermo, tut gleichzeitig kund, daß er überhaupt nicht daran denke, seine Spieler für irgendwelche läppischen Länderspiele, geschweige denn die Fußball-Europameisterschaft, freizugeben.
München, 6. März: Uli Hoeneß stellt voller Stolz den neuen Bayern- Trainer vor. Es handelt sich um Diego Maradona. Patzig erklärt der Manager auf Vorhaltungen, daß der Argentinier doch überhaupt kein Deutsch spreche: „Besser als Sören allemal.“ Außerdem habe er ihm erklärt, was „hijo de puta“ auf deutsch heiße. „Das reicht für seine Arbeit.“ Auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, Maradona den Job schmackhaft zu machen, grinst Hoeneß breit: „Ich habe ihm erzählt, daß es hier jede Menge Schnee gibt.“
Palermo, 10. März: Während der als Unterhändler nach Sizilien gereiste Bundestrainer Berti Vogts auf dem Flughafen von Palermo die Gangway hinuntersteigt, fliegt vor seinen Augen der Zubringerbus in die Luft. Vogts sieht zähneknirschend die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens ein, macht auf dem Absatz kehrt und nominiert das komplette Aufgebot des Bundesliga-Tabellenführers Eintracht Frankfurt für die EM.
München, 25. März: Die Bundesliga-Mannschaft des FC Bayern München tritt in den Streik, nachdem sie ein halbstündiges Trainingsspiel gegen eine Auswahl aus Präsidium, Management und Trainerschaft mit 0:8 verloren hat. „Wir lassen uns doch nicht verarschen“, schimpft Stefan Effenberg, „das letzte Tor war klar abseits.“
Zürich, 31. März: Die FIFA gibt bekannt, daß das komplette Aufgebot des Bundesliga-Tabellenführers Eintracht Frankfurt dem japanischen Konzern Mitsubishi gehört und vom 1. April an in der japanischen Liga zu spielen hat. Frankfurts Manager Gerster hatte mit Mitsubishi einen Vertrag abgeschlossen, den er für einen überaus vorteilhaften Sponsorenkontrakt hielt. Er hatte jedoch einige kleingedruckte japanische Schriftzeichen überlesen und versehentlich Mannschaft, Trainer, sich selbst und das Präsidium an Mitsubishi verkauft. Coach Stepanovic und Vizepräsident Hölzenbein sind schockiert und verweisen auf die beklemmende Äppelwoi-Knappheit in Japan, nur Präsident Ohms ist begeistert über sein neues Betätigungsfeld: „Prima. In zwei Jahren liegt mir die Börse von Tokio zu Füßen.“ Berti Vogts nominiert das Aufgebot des Tabellenzweiten der Bundesliga 1. FC Kaiserslautern für die EM.
München, 9. Mai: Durch einen 4:0-Heimsieg gegen den MSV Duisburg sichert sich der FC Bayern München, der seit dem 25. März mit einer Auswahl aus Präsidium, Management, Vorstand und Trainerschaft antritt, einen UEFA-Cup-Platz. Drei der vier Treffer erzielt E-Jugend-Coach Jupp Heynckes.
Berlin, 25. Mai: Der Vorsitzende der Berliner Olympia GmbH, Axel Nawrocki, wird entlassen, weil er vergessen hat, Willi Daume zum 79. Geburtstag zu gratulieren. Nachfolger wird Heinrich Lummer.
San Diego, 10. Juni: Hürdensprinter Greg Foster bestreitet die US-Meisterschaften mit zwei gebrochenen Schienbeinen, wird nur Vierter und kann sich nicht für die Olympischen Spiele qualifizieren. Über die Ursache seiner Verletzungen äußert sich Foster nur verschwommen. Beim Training sei hinter einer Hürde plötzlich ein strange man aufgetaucht, habe „Hopp!“ geschrien und ihm eine Eisenstange vor die Beine geknallt. Stern-TV weist mit einem Amateurvideo nach, daß es sich bei der verdächtigen Person mit größter Wahrscheinlichkeit um Paul Schockemöhle handelt. „Ich werde diesen Fall mit größter Sorgfalt untersuchen“, verspricht der Mühlener Pferdezar, „sollte sich tatsächlich herausstellen, daß der Täter mit mir identisch ist, werde ich unnachsichtig gegen mich vorgehen.“
Göteborg, 26. Juni: Fünf Minuten vor Schluß des EM-Finales gegen Dänemark wechselt Berti Vogts beim Stande von 0:4 den Stürmer Stefan Kuntz ein, der seit der Winterpause wegen eines Schlittenunfalls — seine kleine Tochter war ihm über den Fuß gefahren — kein Fußballspiel bestritten hat. Bei der abschließenden Stollenkontrolle verheddert sich Kuntz jedoch an der Armbanduhr des Linienrichters, stürzt auf das Spielfeld, bricht sich das Schlüsselbein und wird vom Platz getragen. Die deutsche Mannschaft beendet die Partie mit zehn Spielern.
Berlin 30. Juni: Heinrich Lummer wird als Vorsitzender der Berliner Olympia GmbH entlassen, nachdem er allen IOC-Vertretern unter dem Pseudonym Otto Schwanz Gutscheine für Besuche in Berliner Bordells gesandt hatte. Die Sache fliegt auf, als das britische IOC-Mitglied Prinzessin Anne der Einladung nachkommt. Ihr Sekretär hatte den Begriff whorehouse in Unkenntnis der Person des Absenders für einen Irrtum gehalten und eigenmächtig in warehouse geändert. Einziger Kommentar der Prinzessin: Disgusting! Einziger Kommentar Lummers: „Verklemmte Zicke.“
Frankfurt, 1. Juli: Das Schiedsgericht des DFB beschließt, Stefan Kuntz mit einer Länderspielsekunde in die Statistik aufzunehmen. Damit unterbietet der Lauterer locker die fünf Länderspielminuten des Mönchengladbachers Peter Dietrich aus dem Jahre 1970 und erklärt spontan seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft: „Nun habe ich alles erreicht, was ich mir gewünscht habe. Mehr ist wohl nicht drin.“
Wimbledon, 5. Juli: Nach seiner 0:6-0:6-0:6-Finalniederlage gegen Björn Borg erklärt Boris Becker seinen endgültigen Abschied vom Profitennis. Er werde nun erst mal ordentlich ausspannen, sein lange geplantes philosophisches Werk „Das Netz und das Nichts“ („The net and the not“) schreiben und dieses dann gemeinsam mit Carlo Thränhardt verfilmen. Für die Hauptrolle schwebe ihm John McEnroe vor. Als Journalisten diesen anschließend nach seiner Meinung über das Projekt befragen, erläutert McEnroe eingehend und mit großer anatomischer Sachkenntnis, wohin sich Becker sein Buch samt Film stecken könne. Die entsetzte BBC versucht verzweifelt, die Worte des Tennisspielers mit einer Rede von Premierminister Major zu übertönen, bringt jedoch vor Aufregung alles durcheinander und blendet das Gesicht Majors zur Rede McEnroes ein. Meinungsumfragen ergeben in den nächsten Tagen einen unerhörten Popularitätsschub für Majors Konservative Partei, und seine Berater versuchen, einen Rhetorikkurs für den Premierminister bei John McEnroe zu buchen. Dieser erläutert ihnen eingehend und mit großer anatomischer Sachkenntnis...
Mühlen, 10. Juli: Paul Schockemöhle räumt ein, Greg Foster im Auftrag des NOK der USA „leicht touchiert“ zu haben. Alles andere sei nichts als üble Nachrede. „Was kann ich dafür, wenn der Bursche so morsche Knochen hat“, grantelt er weiter. Foster solle gefälligst das Maul nicht so weit aufreißen, „sonst kriegt er das nächstemal gleich den Gnadenschuß.“
Neubrandenburg, 20. Juli: Sprintstar Katrin Krabbe gibt bekannt, daß sie auf einen Start bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona verzichtet. Ihr Manager Jos Hermens fügt ungefragt hinzu, daß Krabbe nicht gedenke, bis zum Jahr 2000 gegen die Jamaikanerin Merlene Ottey anzutreten. „Was glauben sie, wie nervös die Ottey dann sein wird“, feixt Hermens voller Vorfreude.
Peking, 12. August: Nachdem sich — außer Walter Momper — niemand bereitgefunden hat, den Vorsitz der Berliner Olympia GmbH zu übernehmen, erklärt Willi Daume auf einer überraschenden Pressekonferenz in der „Verbotenen Stadt“ von Peking, daß er von der Berliner Olympiakandidatur nun endgültig die Schnauze voll habe und, gemeinsam mit Franz Beckenbauer, die Leitung der Pekinger Bewerbungskampagne für Olympia 2000 übernommen habe. „Hier haben sie mir sofort einen Palast als Wohnung gegeben, es gibt keine Olympiagegner — jedenfalls niemals lange —, und der Bürgermeister tanzt nach meiner Pfeife, anstatt selber eine zu sein“, erläutert der greise Olympier die Gründe für seinen sensationellen Schritt.
Las Vegas, 8. September: Beim mehrfach verschobenen Weltmeisterschaftskampf im Schwergewichtsboxen zwischen Mike Tyson und Titelverteidiger Evander Holyfield kommt es zum Eklat, als Tyson seinen Gegner in der Pause zwischen der 8. und 9. Runde in den Hintern kneift. Holyfield schlägt Tyson auf der Stelle k.o. und wird wegen „unerlaubter Kampfhandlung nach dem Gong“ disqualifiziert. „Ich konnte nichts dafür, die Hormone“, rechtfertigt sich Weltmeister Tyson in der anschließenden Pressekonferenz, „der Kerl hat mich provoziert, was muß er so leichtbekleidet herumlaufen.“
Tokio, 24. November: Kurz vor dem Großen Preis von Japan rammt der Brasilianer Ayrton Senna, der in der WM-Wertung einen Punkt vor seinen Rivalen Prost, Mansell und Patrese liegt, die in den ersten Startreihen postierten Fahrzeuge sämtlicher Konkurrenten und ihrer Teamkollegen, steigt in einen Ersatzwagen und gewinnt souverän. „Sorry, ich bin leider ausgerutscht“, rechtfertigt sich der frischgebackene Weltmeister nach dem letzten Rennen der Saison, während der Internationale Motorsportverband erklärt, daß nach Auswertung aller Videoaufzeichnungen kein schuldhaftes Verhalten des Brasilianers festgestellt werden könne. Prost, Mansell und Patrese werden wegen Falschparkens für zwei Rennen gesperrt.
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