Kommen, um sich Gewißheit zu verschaffen

Vor der Gauck-Behörde in Berlin war gestern reger Andrang, um Einsicht in die Stasi-Akten zu erhalten/ Neben den Prominenten Vera Wollenberger, Bärbel Bohley, Lutz Rathenow und Rainer Eppelmann kamen vor allem ältere Bürger  ■ Von Severin Weiland

Berlin (taz) — Es ist kalt an diesem Morgen in der Behrenstraße in Ost- Berlin. Aber nicht die Kälte ist es, die Vera Wollenberger in aller Eile zur blauen Eingangstür der Gauck-Behörde stürmen läßt. Denn kaum ist sie gesichtet worden, drängen sich die Kameramänner und Fotografen vor, hagelt das Blitzlicht auf die Bürgerrechtlerin herunter, die versucht, sich hinter ihrem blonden Haar zu verstecken. Nervös hantiert sie mit dem Summer, findet ihn im ersten Moment nicht — eine quälende Minute vergeht. Schließlich öffnet sich doch die Tür zu jenem Gebäude, wo sie zusammen mit anderen Prominenten aus der ehemaligen Bürgerrechtsbewegung der DDR ihre Stasi- Akten einsehen wird.

Seit gestern ist das im Dezember vom Bundestag verabschiedete Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft. Danach haben Betroffene das Recht, in die über sie angelegten Akten Einsicht zu nehmen. Nun kann auch Vera Wollenberger mit eigenen Augen nachlesen, wie weit die Staatssicherheit in ihr Privatleben, das ihrer Kinder und ihres oppositionellen Freundeskreises eingegriffen hat. Erst vor wenigen Wochen mußte sie erfahren, daß ihr Mann Knud Wollenberger jahrelang als »Informeller Mitarbeiter« unter dem Decknamen »Donald« für die Staatssicherheit gearbeitet hat. Sie erfuhr es allerdings nicht von ihm selbst, sondern von Mitarbeitern der Wochenzeitung 'die andere‘, die sie kurz vor dem Erscheinen eines entsprechenden Artikels darüber informierten.

Neben Vera Wollenberger kommen an diesem Morgen auch andere Prominente in die Gauck-Behörde in Ost-Berlin. Darunter sind Rainer Eppelmann, Lutz Rathenow, Wolfgang Templin, das Ehepaar Poppe und nicht zuletzt Bärbel Bohley. Ihre Akten sind extra aus der Normannenstraße, der ehemaligen Stasi-Zentrale und Lagerstätte der Aktenberge, in die Behrenstraße gebracht worden, wie David Gill, Sprecher der Berliner Behörde erklärt. Noch sei in der Normannenstraße kein geeigneter Raum vorhanden, um die Akteneinsicht durchzuführen. Man hoffe aber, dieses Problem bald gelöst zu haben.

So bleibt die Akteneinsicht an diesem Tag den Prominenten vorbehalten. Doch schon jetzt zeichnet sich — zumindest in Berlin — ab, daß die Gauck-Behörde mit Arbeit überhäuft werden wird. Unablässig betreten Menschen das Gebäude, das bis zur Wende in der DDR Sitz der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) der Stasi war.

Vielen ist anzumerken, wie lange sie auf diesen Tag gewartet haben. Manche wollen ihre Lebensgeschichte schildern. Etwa der 56jährige Werner Krenning aus Berlin, der in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961, also kurz vor dem Mauerbau, unter anderem wegen „Staatshetze“ verhaftet wurde und bis zum Februar 1962 im Gefängnis war. Der Grund: Er hatte — wie viele damals — ganz legal als Ostberliner im Westen gearbeitet. Er sei hergekommen, um zu wissen, wer »da alles mit drin hängt«. Oder der heute 57jährige Diplom-Ökonom, der lieber namenlos bleiben möchte. Er mußte wegen »Verunglimpfung der Staatsorgane« von 1982 bis 1983 zwei Jahre absitzen. Ein Stasi-Major habe damals seine Vernehmung geführt — nun wolle er auch wissen, wer von seinen Arbeitskollegen als Stasi-Spitzel tätig gewesen sei. Oder die 71jährige Anna Tasler, die die Konzentrationslager der Nazis überlebte und in der DDR nie als rassisch, politisch oder religiös Verfolgte anerkannt wurde. Den grünen Ausweis besitzt sie erst seit einem halben Jahr. Sie war 1943, damals 20 Jahre alt, in das KZ Ravensbrück eingeliefert und zwangssterilisiert worden, weil sie von einem Kriegsgefangenen ein Kind bekommen hatte. »40 Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet«, sagt sie, sichtlich gerührt. Sie erhofft sich nun eine Antwort darauf, wer sie daran gehindert hat, in der ehemaligen Verfolgtenorganisation der damaligen DDR aufgenommen zu werden. Oder die 37jährige Maschinenbauingenieurin, die mit ihren beiden Kindern aus Hamburg gekommen ist. 1989 sei sie legal in die Bundesrepublik ausgereist, aber zuvor habe man ihr das Leben erschwert und auch versucht, Einfluß auf ihre Kinder auszuüben.

»Aufklärung, Wissenwollen, endlich das Mißtrauen beseitigen« — das sind Stichworte, die als Begründung fallen, warum der Gang zur Gauck-Behörde angetreten wurde. Die meisten reagieren hilflos auf die Frage, wie sie mit der Erkenntnis umgehen wollen, daß ein guter Freund, ja vielleicht der Partner für die Stasi gearbeitet hat. Nur eine der Befragten ist sich schon jetzt sicher: »Mit Nichtbeachtung strafen.«