Vom jüdischen Volk blieb immer nur ein Rest

■ Simon Wiesenthal über die Wannseekonferenz, auf der NS-Bürokraten die Ermordung der europäischen Juden vereinbarten

Berlin. Um 20 Uhr war der große Saal des jüdischen Gemeindehauses in der Fasanenstraße bis auf den letzten Platz besetzt. Zehn Minuten später kam er. Langsam, wie sich das für einen 83jährigen ziemt: Stehende Ovationen für Simon Wiesenthal. Seit 1961 leitet er das Jüdische Dokumentationszentrum in Wien und ist zur Symbolfigur für die Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen gegen das europäische Judentum geworden.

Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen im Mai 1945 durch die Amerikaner, widmete sich Wiesenthal der Dokumentation der Judenverfolgung. An die 1.200 Naziverbrecher hat er aufgespürt. Er half mit, Adolf Eichmann 1960 in Argentinien zu finden, fand den SS-Führer Rajakowitsch, Vertreter Eichmanns in den Niederlanden, erreichte die Festnahme des Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, Stangl, 1967 im brasilianischen Sao Paulo und spürte Karl Silberbauer auf, der Anne Frank verhaftet hatte.

Am Vorabend des 50. Jahrestages der Wannseekonferenz erinnerte er an die geplante Vernichtung der europäischen Juden — mit Fakten. Die Endlösung sei nicht erst auf der Konferenz beschlossen worden. Schon in den Jahren davor, sei mit der Vergasung Kranker und geistig Behinderter eine rationelle Tötungsmethode erprobt worden. Die Wannseekonferenz habe »den Charakter eines informellen Arbeitsessens« gehabt, auf dem die Ministerien über die erwünschte Mithilfe an der Endlösung informiert wurden. Die anwesenden Staatssekretäre seien zumeist Juristen, zumindest aber Männer mit akademischer Ausbildung gewesen. Leute also, die »von Berufs wegen zwischen Gut und Böse hätten unterscheiden können müssen«. Die Stimmung auf der Konferenz beschrieb Adolf Eichmann, der damals Protokoll führte: Es war »nicht nur eine freudige Zustimmung allseits festzustellen, sondern darüber hinaus ein gänzlich Unerwartetes, ich möchte sagen, sich Übertreffendes und Überwiegendes im Hinblick auf die Forderung zur Endlösung der Judenfrage«.

Mit der Ermordung insbesondere des Ostjudentums, welches die Juden in vielen anderen Teilen der Welt mit Wissen, Lehre und Tradition inspiriert habe, sei ein großer Teil des geistigen Potentials vernichtet worden, dessen Fehlen sich noch heute bemerkbar mache: »Ich möchte mit dieser Äußerung keine Kritik an irgendwelchen, heute weltweit agierenden Personen üben, es ist nur eine mich bedrückende Feststellung, wie geistig arm unser Volk geworden ist.« Es sei die Tragik des jüdischen Volkes, daß es immer nur ein Rest war.

Ein Rest, der Ägypten verlassen durfte, ein Rest nach der Vertreibung aus Babylon, Palästina und Spanien und ein Rest nach Hitler. Aber, schließlich stehe schon in der Bibel geschrieben, »der Rest wird bleiben«. Anja Seeliger