: Krankheit als Systemgefahr
■ Im Gesundheitsladen diskutierten ÄrztInnen über die Tätigkeiten der Stasi im Gesundheitswesen/ Vertrauensbruch zwischen Arzt und Patient entzieht der Behandlung die Grundlage
Kreuzberg. »Ich bin nicht erstaunt über die großen Stasi-Skandale in der Charité oder die Transplantations- Geschichten«, meinte die Ostberliner Internistin Eva Reich, »ich kann aber überhaupt nicht verstehen, was die Stasi auf Stationen wollte, auf denen das Durchschnittsalter fünf oder 75 Jahre betrug. Sollten die gefährlich sein?« Mit dieser Frage gab die Mitbegründerin des Neuen Forums Anstoß zu einer Diskussion über die Tätigkeiten der Stasi im DDR-Gesundheitsbereich im Westberliner Gesundheitsladen des Mehringhofs.
Während sich der Großteil der öffentlichen Auseinandersetzung — wie auch der Beginn der Diskussion— damit befaßt, wie mit offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi umgegangen werden soll, herrscht jedoch weitgehend Unverständnis darüber, welches Interesse das MfS am Gesundheitswesen hatte und welchen Schaden die Spitzel anrichteten. Mit der Veranstaltung knüpfte der 1978 gegründete Gesundheitsladen an die Tradition des »Ost-West Dialoges« an, in dessen Rahmen sich von Ende 1989 bis Ende 1990 ÄrztInnen aus beiden Teilen Berlins zum ersten Informations- und Erfahrungsaustausch trafen.
Thomas Decker, Arzt und Personalrat im Ostberliner Krankenhaus Buch, glaubt, daß das größte Interesse der Stasi weniger den Patienten als den Mitarbeitern galt. »Die wollten wissen, was man sich beim Frühstück erzählt«, hauptsächlich um ein »Ausbluten« des Gesundheitssystems zu verhindern. Doch damit wollten sich die meisten Anwesenden nicht zufrieden geben. Ein Westberliner Arzt, der seit einem Jahr in einer Potsdamer Klinik arbeitet, forderte, genau zu klären, »was ein Patient von einem Arztbesuch zu befürchten hatte«. Mit Verweis darauf, daß es in der Bundesrepublik ebenfalls den Versuch gegeben habe, einen »gläsernen Menschen« herzustellen, sah er das Ziel der Stasi vor allem darin, ein genaues Abbild der Gesellschaft herzustellen.
Eberhard Seidel, Arzt im Klinikum Friedrichshain, hielt konkrete Einzelheiten der Stasi-Tätigkeit für nicht so relevant wie die schlichte Tatsache, daß »ohne administrative« Verpflichtung das Vertrauen der Patienten gebrochen wurde. »Es ist skandalös, wie lasch mit der ärztlichen Schweigepflicht umgegangen worden ist.« Dies träfe vor allem, meinte auch eine Ostberliner Psychotherapeutin, den Bereich der Psychologie, deren »einziges Behandlungsinstrument« das Vertrauen zwischen Arzt und Patient sei.
Doch nicht nur die Ostdeutschen haben ihre Probleme mit den Sicherheitsdiensten. Eberhard Göbel vom Gesundheitsladen wies — auch wenn es natürlich nicht zu vergleichen sei— darauf hin, daß der Verfassungsschutz ebenfalls genau Buch führe über die Veranstaltungen im Blauen Salon des Mehringhofes. lada
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