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Von der Weltlage schwer erwischt

Eine Branche ist im Streß: Angesichts der rasanten politischen Veränderungen in Asien und Europa sind nur noch veraltete Atlanten erhältlich/ Die Verlage drucken nur noch kleinere Auflagen, um flexibler auf die Weltlage reagieren zu können  ■ Von Claus Christian Malzahn

Berlin (taz) — Die Sowjetunion existiert weiter — jedenfalls in den Schulatlanten. So schnell, wie in den vergangenen Monaten in Asien und Europa Staaten aufgelöst und neue gebildet wurden, konnten die kartographischen Fachverlage gar nicht reagieren. Die Branche hinkt der Politik hinterher, Atlanten, in denen die aktuellen Grenzen abgebildet werden, sind im Handel noch nicht erhältlich.

Das Problem: Allein durch die Auflösung der Sowjetunion müssen beispielsweise 100 von 240 Seiten des Diercke-Weltatlas geändert werden. Ob die aktualisierten Auflagen dann aber auch von den SchülerInnen benutzt werden können, ist noch eine ganz andere Frage. Für den Einkauf von Atlanten sind seit den 70er Jahren die Schulen zuständig — und die wollen sparen.

„Die Schulen schaffen sich nur etwa alle sieben Jahre neue Atlanten an“, weiß Andreas Baer, Pressesprecher des Verbandes kartographischer Verlage und Institute. Ein Atlas ist das teuerste Schulbuch überhaupt: Unter 50 Mark ist auch bei Massenbestellungen keiner zu bekommen. In diesen Tagen verhandelt das Schulministerium von Sachsen- Anhalt mit dem Verband, neue Atlanten wird man sich angesichts der desolaten finanziellen Verhältnisse aber nicht leisten können. In Sachsen-Anhalt leben über 400.000 SchülerInnen, erhält nur jede(r) zweite einen neuen Atlas, kostet das immerhin noch 10 Millionen Mark. Baer zur taz: „Die haben im Moment dringendere Probleme!“

Trotz der zögerlichen Haltung der Länder hat die Kartenbranche viel zu tun. Allein in der GUS werden 50 Städtenamen geändert. Einige Millionenstädte haben sowjetische Kartographen an der falschen Flußbiegung eingezeichnet, um ihre Kollegen aus dem Westen zu verwirren. Wer vor einem halben Jahr Moskau besuchte, lief Gefahr, sich trotz eines Stadtplans zu verlaufen, weil Phantomstraßen eingezeichnet waren. Wer vor einem Jahr mit seinem Fahrrad eine Spritztour in das Berliner Umland wagte und alten DDR-Karten vertraute, verlor oft die Orientierung. Gerade in der Nähe militärischer Sperrgebiete hatten die Kartenhersteller Straßen nicht eingezeichnet oder Ortschaften „vergessen“. Das Arbeiter-und-Bauern-Paradies Wandlitz tauchte überhaupt nicht auf. Das die im Handel erhältlichen Karten ungenau waren, wußten die DDR-BürgerInnen natürlich genau. Viele kramten deshalb auf dem Speicher präsozialistische Landkarten hervor — die waren exakter.

„Wir sind nicht im Jet-lag, sondern im Zeit-lag!“ erklärt Andreas Baer das Dilemma seiner Branche. Bei Schrödel ging im Herbst 1989 ein neuer Atlas in Druck, in dem die Mauer noch eingezeichnet und die DDR noch existent war. Nach 14 Tagen auf dem Markt war das Werk nicht mehr aktuell. „Wir müssen diese überholten Atlanten oft weiter ausliefern, weil wir an langfristige Verträge gebunden sind“, sagt Baer. „Aus diesen Verträgen, die uns verpflichten, die alten Dinger weiterzuproduzieren, möchten wir natürlich gerne raus!“

Die Schulverwaltungen denken aber gar nicht daran, neue Richtlinien zu erlassen. „Im Moment ändert sich die Weltlage doch ständig!“ stöhnt ein Mitarbeiter des Berliner Schulsenators. „Da wäre es hirnverbrannt, sich jetzt festzulegen.“ Der Beamte will „erst mal abwarten“ und darauf hoffen, daß die grassierende Staatengründung aus der Mode kommt. „Wer weiß, ob es in zwei Jahren die GUS noch gibt.“

Schon jetzt stehen die Atlantenproduzenten vor schwierigen Fragestellungen. Was kommt hinter der Südostgrenze Österreichs? Jugoslawien oder Slowenien? Für die Redaktion des Diercke-Atlas ist die Sache klar: Jugoslawien habe noch nicht aufgehört zu existieren. Nur die offizielle Entlassung aus dem Staatenverband wäre ein Grund, die Karte zu ändern.

Beim Klett-Verlag in Stuttgart sieht man das anders: „Bei uns steht da Slowenien. Die politische Selbständigkeit reicht aus.“ kontert Frithjof Altemüller, Leiter der Redaktion Geographie des Stuttgarter Verlages. Im vergangenen Jahr hat der Klett-Verlag 140.000 Schulatlanten eingestampft, alles Werke, in denen Deutschland noch in der „Perlenkettengrenze“ von 1937 eingezeichnet war. „Die Geographen hat die Weltlage schwer erwischt!“ meint Altemüller. Probleme gibt es nicht nur bei den politischen Grenzen. Alle neuen Wirtschaftskarten, in denen die Nachfolgestaaten der Sowjetunion eingezeichnet sind, müssen mit alten Angaben ausstaffiert werden. „Wir haben keine Daten über die Ukraine oder Kirgisien!“ Das müsse man alles „von Fall zu Fall“ korrigieren. Altemüller: „Gott sei Dank bringen wir kein amtliches Kartenwerk heraus. Die Leute da haben's ja noch viel schwerer!“

Solange der Atem der Geschichte vor Aufregung pfeift, produzieren die Verlage vorsichtshalber in kleineren Stückzahlen. „Wir drucken nur noch 10.000 Exemplare pro Auflage, und dann gucken wir, was sich schon wieder geändert hat!“ gibt Helga Ravenstein zu. Vor kurzem schrieb sie den Botschaften Kroatiens und Sloweniens in Bonn einen Brief und fragte nach dem exakten Grenzverlauf der jungen Staaten. Auf die Antwort wartet sie heute noch.

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