piwik no script img

Der sortierte Verbraucher

■ Waldefried H. Zucker-Stenger, Marketingforscher eines touristischen Großveranstalters zur Lifestyle-Forschung in der Reisebranche

WALDEFRIED H. ZUCKER-STENGER, Marketingforscher eines touristischen Großveranstalters zur Lifestyle-

Forschung in der Reisebranche.

D

ie Diskussion in der Reisebranche ist seit einigen Jahren mit Schlagworten gespickt: Wertewandel, Freizeitorientierung, verschiedene Lebensstile, Erlebnisorientierung, Zeitgeisteinfluß, Paradigmenwechsel und Moralbegriffe geraten in die Rasterfahndung der Urlaubsforscher. Auch in der Reisebranche gibt es für die Marketingfachleute kaum ein spannungsreicheres Thema als das Verbraucherverhalten. Viele schlaue Köpfe bemühen sich, das rätselhafte Wesen der Urlaubsreisenden neu zu entdecken, und versuchen, ihre Erkenntnisse in ein praxisorientiertes Marktmodell zu implantieren. Das Ziel ist, Werbekampagnen besser zu gestalten und die ins Auge gefaßten Zielgruppen präziser zu erreichen.

In der Unternehmenspraxis sind wir bis heute gewohnt, Märkte immer vom Produkt aus zu definieren. Folglich wird der Verbraucher permanent in produkt- und leistungsbezogene Einzelteile zerlegt: der Flugreisende, der Autourlauber, der Griechenlandgast, der Kurzurlauber, der Fernreisende. Diese eindimensionalen Marktauffassungen reichen nicht mehr aus, um das Marktgeschehen verständlich zu machen und darauf firmenbezogene Marketingstrategien aufzubauen. An die Stelle der produktbezogenen Marktmodelle sind neue „Sortierungen“ der Verbraucher getreten. Wie zuvor schon in vielen anderen Branchen geschehen, wird versucht, mit psychologischen und soziologischen Dimensionen das scheinbar so widersprüchliche Verbraucherverhalten zu erfassen.

Warum geben Verbraucher ihr Geld nicht in der erwarteten Regelmäßigkeit und zum prognostizierten Zeitpunkt aus? Warum gibt der Verbraucher sein Geld nicht in erwartetem Maße für Urlaubsreisen, sondern für substituierende Freizeitgüter aus? Warum gibt es notorische Nichtreisende, Intervallreisende und eine große von Reiseziel zu Reiseziel fluktuierende Masse? Da ist die Rede vom hybriden Verbraucher, der, ständig wechselnd, zu hedonistischen Übertreibungen wie spartanischer Einfachheit neigt. Das wechselnde Verhalten macht ihn zunehmend unberechenbarer. Der bisherige Erfahrungshintergrund zur Prognose des Konsumentenverhaltens hilft nicht weiter; man ruft nach einem neuen Blickwinkel, vernetzten Denkmodellen und interdisziplinären Zielgruppenanalysen.

Für die Konsumforscher steht fest, es gibt noch andere Kräfte beim Geldausgeben als die schieren Besitzlücken. Was also geht zwischen der Bedarfsstruktur des Verbrauchers und seinem Ausgabenverhalten tatsächlich vor? Interessanter als die Prüfung der Einkommenselastizität bestimmter Haushaltstypen ist die Beantwortung der Frage nach der Ausgabenneigung bestimmter Verbrauchergruppen. In einer Wohlstandsgesellschaft herrscht immer eine ausgeprägte differenzierte Ausgabenneigung vor. Denn die Ausgabenneigung verteilt sich beim Verbraucher keinesfalls über seine gesamte Bedarfsstruktur.

Nachfolgend ist die Rangreihe der Lebens- und Konsumbereiche dargestellt, „für die man gern etwas mehr Geld ausgibt“:

Bevölk. 18-64 J. 36,9 Mio.100%

Reisen und Urlaub 19,653%

Gut Essen u. Trinken 18,350%

Mode, Bekleidung 16,244%

Körper u. Kosmetik 13,837%

Möbel, Einrichtung 12,333%

Alter u. Versicherung 11,230%

Bücher 10,829%

Pkw u. -Ausstattung 10,528%

Fernseh-, Videogeräte 8,523%

Gästebewirtung 8,022%

Stereo-, HiFi-Geräte 7,921%

Sport, Fitness 7,220%

Elektr. Haushaltsgeräte 6,417%

Kücheneinrichtung 5,515%

Großzüges Wohnen 5,415%

Quelle: Gruner & Jahr 1991

Dabei ist es für die Marketingverantwortlichen wichtig, den Verbraucher nicht als statistische Zahl, sondern als lebendigen, vielschichtigen Menschen zu sehen. Zum besseren Kennenlernen des Verbrauchers, zum Vertrautwerden mit seiner komplexen Persönlichkeit, seinen Einstellungen und Verhaltensweisen wurden schon Ende der sechziger Jahre von der Werbeagentur Leo Burnett in Zusammenarbeit mit der Universität von Chicago die methodischen Grundlagen für ein neues, damals außergewöhnliches Forschungsinstrument entwickelt: Lifestyle-Research. In Deutschland wird diese Studie seit 1973 alle fünf Jahre durchgeführt.

Während die üblichen Verbraucher- Segmentationen in der Regel lediglich Unterschiede bezüglich soziodemografischer Ausprägungen (Alter, Bildung, Haushaltsgröße, Haushaltseinkommen, Bundesland) oder hinsichtlich produktbezogenen Konsumverhaltens reflektieren, analysiert Lifestyle die Verbraucher auf der Basis umfangreicher psychologisch-qualitativer Merkmale, die den Menschen in seiner individuellen Persönlichkeit ganzheitlich erfassen und beschreiben sollen.

Der Kern dieser Art von Marktforschung ist die Verdichtung der individuellen Persönlichkeitsbilder zu quantifizierbaren exemplarischen Typen, die in ihrer Summe die gesamte Bevölkerung repräsentieren. Die Zuverlässigkeit und Aussagefähigkeit der Ergebnisse ist garantiert durch eine repräsentative Zufallsstichprobe mit 2.000 Befragten. Zur Typenbildung und -beschreibung wurden die Antworten auf fast 700 Statements aus allen Lebensbereichen herangezogen. Die ermittelten Lebensstiltypen, in der letzten Untersuchung 1991 wurden zwölf verschiedene Typen aufgefunden, sind nicht nur in jeder Beziehung genau und umfassend beschriebene Orientierungspunkte, sondern darüber hinaus Repräsentanten von qualifizierbaren Potentialen.

1.Junge Individualisten 6%

20 bis 30 Jahre, Trendsetter mit kritischem Bewußtsein und genußsüchtigem Lebensstil

2.Die neue Familie 7%

Partnerschaft, Kind und Selbstverwirklichung bei Wohlstand und ökologischem Engagement

3.Fun-orientierte Jugendliche 7%

unter 20 Jahren, machen jeden Trend mit, wollen Spaß und Vergnügen ohne Nachdenklichkeit

4.Trendbewußte Mitmacher 5%

Prestige, Konsum und Freizeitaktivitäten sind der Lebensinhalt

5.Die Arrivierten 7%

Leistungsorientierte, konservativ-liberale Bildungsbürger

6.Die Aufstiegsorientierten 8%

Karriere- und statusbewußt, ehrgeizig, aber trotzdem genußfreudig

7.Die Geltungsbedürftigen 8%

Sehen wenig Zukunftsperspektiven, berufliche und private Resignation, versuchen trotzdem Eindruck zu machen

8.Die Angepaßte 8%

Verträumte Frauen, lieben Mode, Kosmetik und Romanzen

9.Der Bodenständige 13%

50 bis 60 Jahre alt, harter Arbeiter mit bescheidenem Wohlstand, genügsamer Pascha

10.Der Coole 7%

Macho-Männer, lieben Action und Abenteuer

11.Die Bescheidene 14%

Konservative patente Hausfrau und Mutter

12.Die Häusliche 10%

Tugendhafte Rentnerin, anspruchslos und schicksalsergeben

Quelle: Michael Conrad & Leo Burnett, 1991

Der alltäglich ungeheure Werbedruck schleift die Wahrnehmungsfähigkeit und die Wahrnehmungswahrscheinlichkeit immer mehr ab. Hier setzt die Lifestyle-Forschung an. Ohne Zweifel leistet sie einen Beitrag dafür, Werbekampagnen treffender zu gestalten und die Zielgruppen präziser zu erreichen. Keine Frage, wer über Träume, Sehnsüchte und Lebenswelten Bescheid weiß, wer das Auswahl- und Ausgabeverhalten kennt, der kann durch Marketingkommunikation seine Produkte und Dienstleistungen besser zum richtigen Zeitpunkt in den Entscheidungsprozeß des Verbrauchers einbringen.

Für die Tourismusbranche hat der Studienkreis für Tourismus e.V. in seiner jährlichen Reiseanalyse (RA 1990) spezielle Lebensstiltypen mit Hilfe multivariabler Verfahren errechnet. Die Lösung mit sechs Typen erschien den Urlaubsforschern besonders aussagekräftig:

1.Gesundheitsbewußte Engagierte 9%

Suchen körperliche Anstrengung und kulturelle Sehenswürdigkeiten

2.Passiv häuslich Unauffällige 20%

Bleiben im Urlaub auch gern zu Hause

3.Offene Freizeitorientierte 14%

Wollen viele Länder kennenlernen, üben Komfortverzicht

4.Gutsituiert Familiäre 19%

Wichtig: Zeit füreinander haben, sich viel gönnen

5.Genügsam Fleißige 23%

Brauchen Urlaub zur Regenerierung

6.Dynamische Egozentriker 14%

Suchen Urlaubsbekanntschaften, Spaß und Vergnügen

Quelle: Studienkreis für Tourismus, Starnberg, 1991

Im großen und ganzen sind die Lifestyle-Typologien originelle Versuche, Zielgruppen zu segmentieren und zu verstehen. Unsere alltägliche Gewohnheit, von der Person aus zu urteilen, brauchen wir nicht aufzugeben. Dennoch wurde in der praktischen Anwendung deutlich: auch mit einer Erfahrung vieler Persönlichkeitsmerkmale bekommt man nicht immer die richtigen Determinanten, das heißt eine totale Determination des Verbraucherverhaltens ist nicht erreichbar.

Die Frage bleibt, ob tatsächlich die Persönlichkeitseigenschaften für das Reiseverhalten verantwortlich sind. Der neueste Forschungsansatz geht davon aus, daß eine Urlaubsreise, das Urlaubmachen am Urlaubsort, ein „Produktwirkungsfeld“ entfaltet und sich psychologische Wirkungsstrukturen beobachten lassen, die das Verbraucherverhalten determinieren. Wie kaum ein anderes Produkt bringt die Urlaubsreise kollektive wie individuelle Spannungsfelder mit sich, die in Handlungen und Erlebnisweisen ausgeglichen werden müssen. Bei diesen neuen Urlaubertypen handelt es sich um kollektive Lösungsstile. Solche Verwendungsformen mit einer spezifischen Sinngebung stellen eine natürlichere Segmentation des Marktes dar. Auch nach 30jähriger Tourismusforschung wird klar, daß wir vieles über Urlaubsträume, die Sehnsüchte, das Reiseverhalten sowie die Interdependenzen der Lebenswelten zu Hause und im Urlaub noch nicht wissen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen