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Stereotypien am Felsen

Mozarts Jugend-Oper „Mitridate“ in Amsterdam  ■ Von Frieder Reininghaus

Das Mozart-Jahr ist vorüber, die Begeisterung aber für noch so entlegene Regionen des Köchel-Verzeichnisses hält an. Das Opus 87 des Wolfgang Amadé Mozart, seine erste Opera seria, die zweihundert Jahre lang kaum mehr auf den Bühnen aufgetaucht war, in den letzten Jahren bereits an verschiedenen Orten wieder inszeniert wurde, begeisterte jetzt die Amsterdamer: Mitridate ante portas. Nach der Wiederentdeckung des Idomeneo als hochkarätiges Werk des vorromantischen Musiktheaters könnte nun auch die Mithridates-Oper bis in die fernen Theaterprovinzen vordringen.

Allerdings benötigt dieses Werk hochkarätige Sänger: Stimmartisten, die mit der Gesangstechnik des 18.Jahrhunderts vertraut sind und mit den Koloraturen und Rouladen, den Kadenzen und Trillern umzugehen wissen. De nederlandse Opera verfügt über ein Solistenquartett, das höchsten Ansprüchen zu genügen versteht: allen voran die hin- und herreißende Susan Patterson als Aspasia, zunehmend in gute Fahrt kommend der amerikanische Tenor Bruce Ford in der Titelrolle, konziliant und souverän sein Landsmann Richard Croft und erstaunlich kräftig der Counter-Tenor Jochen Kowalski aus Ost-Berlin — Croft und Kowalski als Prinzen, die dem Vater die zentralen Rechte streitig machen.

Opera seria als Reserve

Auf seiner ersten Italien-Reise, die weit über ein Jahr dauerte, komponierte der vierzehnjährige Mozart erstmals eine große ernste Oper: Mitridate, Rè di Ponto. Vorangegangen waren die Studien- und Konzertreisen, die Leopold Mozart schon früh mit seinen Kindern von Salzburg nach München und Wien unternommen hatte, die große dreijährige Kunstreise in die damaligen Hauptstädte des Westens — Ludwigsburg, Schwetzingen, Frankfurt, Bonn, Paris, London, Amsterdam, Genf, Zürich, Donaueschingen. In der französischen und der englischen Hauptstadt entwickelte sich der kleine Mozart sprunghaft als Sonatenkomponist, ging bei Johann Sebastian Bachs jüngstem Sohn Johann Christian (dem „Londoner Bach“) in die Lehre und schrieb seine ersten Orchestersachen.

Im Dezember 1769 brach Leopold mit seinem Wunderknaben nach Italien auf, führte ihn in Mailand, Bologna, Rom, Neapel und unterwegs vor, verschaffte ihm Kontakte zu den führenden Opernkomponisten der Zeit (denn auf dem Feld der Oper entschied sich letztlich der Rang der musikalischen Meister). In den Musiktheatern regierten die Neuneapolitaner, die so gut wie ausschließlich große dreiaktige Opern schrieben, mit einer freieren Form der alles beherrschenden Da-capo-Arie aufwarteten und in erster Linie — nach genau herausgebildeten Ritualen — die Sänger mit Melodien und Koloraturen bedienten. Die Zahl der Auftritte und deren Ausmaß wurde kaum von dramaturgischen Notwendigkeiten, sondern vor allem vom Rang der einzelnen Gesangsstars bestimmt: Ihnen wurden die einzelnen Nummern auf den Leib zugeschneidert.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag, kurz vor seinem 15.Geburtstag, verblüffte Mozart die Mailänder. Sein Mitridate wurde im Teatro Ducale zu einem außerordentlichen Erfolg. Das Werk brachte es sofort auf zwanzig Vorstellungen — damals wie heute enorm für eine neue Oper. Der kleine Mozart war in die Fußstapfen von Niccoloò Jomelli, Tommaso Traetta, des damals hochberühmten Giovanni Paisiello, des Gastarbeiters Mysliveček aus Böhmen und des lange mit Willibald Gluck um den ersten Platz im Operngeschäft konkurrierenden Niccolò Piccinni getreten. Freilich war die Opera seria schon am Ende von Mozarts kurzem Leben ein auslaufendes Modell (und es ist kein Zufall, daß die hoch artistischen Nachzügler, die Rossini auf diesem Gebiet anfertigte, bald in Vergessenheit gerieten und erst heute wieder reaktiviert werden). In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts war die Kunstgattung der Opera seria mehr oder minder sanft entschlafen — das große Historiendrama und die „romantische Oper“ traten an ihre Stelle. Die Opernlandschaft, bislang italienisch gestylt, differenzierte sich mit dem aufkommenden Nationalismus in nationale Richtungen.

Die Hör- und Seherfahrung der Operngänger blieb überformt von den romantischen Opern und der ihnen folgenden veristischen Ästhetik; im 20.Jahrhundert war (und ist) kaum mehr ein unmittelbarer Zugang zu den antiken Stoffen in spätbarocker, rokoköser oder klassizistischer Musikhülle denkbar (wobei gewiß die Hülle als die Hauptsache genommen wurde). Die Fremdheit von Stoff und Form ist das Problem der Rezeptionsgeschichte selbst von Mozarts berühmtem Titus und dem wegen der meisterlichen Instrumental- und Stimmführung noch emphatischer gerühmten Idomeneo. Solche Fremdheit eröffnet sich bei genauerem Hinhören erst recht bei einem in vielem noch unausgegorenen, ziemlich altklugen Stück wie dem Mitridate mit seiner noch so stereotypen Arienfolge. Doch hier liegt eben die Chance für das neuere Musiktheater: Die Regieführung muß gewisse Rücksichten, die bei allen illusionistisch intendierten Werken wenigstens zu kalkulieren sind, erst gar nicht nehmen; neue Bilder können — unter breiter Akzeptanz — den ohnedies zwischen den Kulturen hin- und hertransportierten Stoffen hinzugestellt werden, ohne daß dies als makabrer Gewaltakt erscheinen würde.

Die Reaktivierungen älterer Stücke der Musikgeschichte in Amsterdam setzen auf die Suggestivkraft statischer Bilder, in denen sich die Protagonisten vorwiegend sehr ruhig bewegen — Monteverdis Il combattimento die Tancredi e Clorinda funktionierte so in einer Installation von Kounellis-Objekten; Monteverdis Ulisse wurde, für Pierre Audis Amsterdamer Inszenierung, nach diesem Grundsatz bereits von Michael Simon ausgestattet. Nun hat Simon für Mitridate wieder ein Arrangement von wenigen sperrigen Objekten getroffen: ein helles Holzgerüst zur Rechten, ein Ensemble von Seilen zur Linken (hinter denen anfangs Wasser hinuntertröpfelt), ein Felsblock in der Mitte — später zeitweise ein überdimensionaler Mühlstein über den Häuptern der in Phantasierüstungen gesteckten Protagonisten. Der Felsklotz auf der Bühne entwickelt sich zum standig gag in Amsterdam: Er erfreute die Zuschauer bereits bei den Monteverdi-Produktionen, kehrte in Michael Grübers Inszenierung von Bruno Madernas Hyperion wieder — und jetzt anläßlich des statuarischen, fast steril gehaltenen Berichts über den Niedergang der Herrschaft des kleinasiatischen Königs Mithridates VI. Der regierte von 120 bis 63 v. Chr. über Pontus, ein Reich an der Südküste des Schwarzen Meeres, das er gewaltig ausdehnte, dann im Kampf gegen die Römer aber weitgehend verlor. Dieser Mithridates hatte nicht nur außenpolitische Schwierigkeiten, sondern — zumindest zeigt dies das Libretto von Vittorio Amadeo Cigna-Santi — auch starke Konkurrenz im Inneren. Die rührt vor allen von seinen zwei bereits erwachsenen Söhnen Pharnakes und Xiphares her, die sich beide während der Abwesenheit ihres Vaters im Kriege in dessen Geliebte Aspasia verlieben.

Mit viel Aufwand bemühte sich Hartmut Haenchen um das Nederlands Kamerorkest, dem auch jetzt keine ganz erstklassige Mozart-Interpretation gelang — wie es ja auch im vergangenen Jahr in het Muziektheater mit Beethovens Fidelio überfordert war.

Pierre Audi pflegt seinen Stil der Reaktivierung älterer und vergessener Werke der Operngeschichte. Wenn es ihm gelingt, sie — beispielsweise mit Installationen von Jannis Kounellis — optisch aufregend zu präsentieren, dann geht die Rechnung der auf „Beschaulichkeit“ angelegten Produktionen auf. Wenn die Seile, das karge Holzgerüst, der einsame Felsbrocken jedoch derart prosaisch bleiben, wie es diesmal der Fall war, dann läuft eine Aufführung Gefahr, den mechanischen Leerlauf vieler musikalischer Passagen allzu kraß vorzuführen. Wie sagten doch die alten Römer so richtig: variatio delectat — Abwechslung erfreut. Mozart hat das auf seiner kurzen Laufbahn rasch begriffen.

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