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Alles im Rahmen

Guy Joosten debütiert am Hamburger Thalia Theater mit seiner Regie von Tschechows „Möwe“  ■ Von Niklaus Hablützel

Mit eher verhaltenem Beifall ging die Premiere des Mannes zu Ende, von dem Intendant Flimm mehr als nur eine Regie erwartet. Der Flame Guy Joosten, gerade mal 29 Jahre alt, firmiert seit kurzem als Oberspielleiter des Hamburger Thalia Theaters. Seinem Einstand mit Tschechows Möwe wurde dennoch nur mit mäßiger Spannung entgegengesehen: Jürgen Flimm genießt solides Vertrauen auch in Personalfragen, und allzuviel Mut zum Risiko scheint ihn auch in diesem Fall nicht angetrieben zu haben. Denn Joosten paßt überaus gut in den Rahmen des zweiten Hamburger Hauses. Zwar hatte er vor sieben Jahren in Antwerpen ein eigenes Ensemble gegründet und mit ihm das eine oder andere zeitgenössische Stück produziert.

Mit Lars Norens Nachtwache gelang dem Youngster aber sehr bald ein erfolgreicher Sprung aus der freien Szene an die Wiener Burg. Auch zu Hause häuften sich die Aufträge großer Bühnen: Shakespeare und Rossini in Brüssel, ein Preis für Gorkis Sommergäste und nun also Tschechows Möwe in Hamburg. Und auch damit möchte der neue Mann vor allem Tradition bewahren: Den Schreibern neuer Stücke fehle es allzuoft an Theatererfahrung, deshalb will er nach dem russischen Fin de siècle vor allem zu Shakespeare zurückkehren.

Es läßt schon mal ein wenig grüßen, das Shakespearesche Brettltheater: Es steht in der Bühnenmitte, zusammengefügt aus Latten und rotem Samt, symbolträchtig schlägt der russische Gutsknecht die letzten Nägel ein — Sargnägel bekanntlich — für den Dichter Konstantin Gavrilovic Treplev, der eben doch kein Dichter ist, sondern nur der Sohn einer Schauspielerin und so unglücklich wie alle auf dem ländlichen Sommersitz.

Daß wir uns allerdings eben da befinden, das müssen wir schon als Bildungsgut mit in den Saal bringen, Bühnenbildner Paul Gallis hat die Sicht auf Landschaften, See und dergleichen zugestellt mit einem Stangengehege, das nun, zu Beginn, fluoreszierend blau leuchtet; später wird es in Gelb gleißen, dann ganz verschwinden und einer Remisenperspektive weichen, die jederzeit als Spitzenangebot im Hamburger Loftmarkt passieren könnte. Der Salon schließlich, in dem das Spiel tödlich endet, überrascht mit einer Fensterfront im selben trendigen Stil, und ganz von ferne grüßt dann dahinter noch einmal das Brettlgerüst, das sich jetzt als ganz und gar nicht shakespearisch erwiesen hat, einfach nur ein Requisit ist, das im Text steht, wie so vieles andere an Drama, Leid und Liebe auch. Aber auf das Hamburger Thalia-Ensemble ist Verlaß, Papier bleibt dieser Tschechow nicht, doch er bleibt sehr vage, eingesperrt in lauter schöne Stellen und zugleich herausgefallen aus seiner historischen Zeit.

Zeit jedoch hatte eine Irina Nikolajewna noch überreichlich, jene langsame Zeit vor dem nahenden, vorausahnbaren Ende ihrer Gesellschaft, eben das also, was heute am meisten fehlt. Vor dem Tempo moderner Zusammenbrüche und dem damit verbundenen Zwang zum immer Besseren gewinnt Tschechows Vision eine unvermutet utopische Qualität. Die Langeweile, das leere Reden, die verfehlten Liebschaften und ebenso verfehlten Tragödien: sie könnten rückwärtige Horizonte sein, vor denen gegenwärtiger Erfahrungsmangel erkennbar würde.

Oder heftig einklagbar als Verlust, so wie Martina Schiesser als Gutstochter Mascha ihre Liebe herausreißen will. Das jedoch bleibt ein Fremdkörper auf der Hamburger Bühne, geflissentlich möchte Joosten solche Elementarenergien möglichst mehrfach brechen und sich wohlgefällig spiegeln lassen. Das gelingt ihm leider fast immer. Beinahe allen Ausbrüchen und Fluchtwegen steht das Design des Bühnenbildes im Wege, das die historisch wie dramaturgisch nötige Distanz vernichtet, das Format der Personen verkleinert, ihnen den identifizierbaren Ort nimmt, weil es sie uns nahebringen will. Mitten auf diesem Wege aber trauten Regisseur und Bühnenbildner der Sache dann doch nicht recht. Sie hielten inne, übrig blieb ein minimalistischer Tschechow, den Joosten ganz rein für sich sprechen lassen möchte, ohne These und ohne Botschaft als Spiel im Spiel, wie es die Klammer des mißglückten Theaterstücks auf dem Landgut Sorin ja in der Tat nahelegt.

Das ist ein bißchen wenig und läßt Schauspieler und Schauspielerinnen arg alleine im Raum, in dem sich nun so gar nichts mehr an der Zeit stoßen darf, und schon gar nicht mit solcher Eindeutigkeit, wie Martina Schiesser das gleichwohl wagt. Vor allem Hildegard Schmahl scheitert symptomatisch an diesem Problem. Eine Diva ist sie allemal, peinlich, auftrumpfend und gemein, mag ihr Alter nicht, ihre Brille nicht, überkreischt das Liebesunglück mit großen Gesten, die falsch sein müssen und eben darum zugleich wahr, weil darin die Tragödie dieser Frau liegt. Hildegard Schmahl macht sich auf zu ihr, vor allem im dritten Akt, wenn der Geliebte ihr den Betrug noch nicht einmal verheimlichen mag - und Hans Kremer spielt das wie am Schnürchen gezogen so kalt herunter, daß einem schaudern kann. Dann ist auch sie nahe daran, alle Skrupel über den Haufen zu werfen und hochzufahren zu jener großen Szene der gebrochenen Frau - die dann doch nicht kommt.

Ein wenig darf das Gesicht gefrieren, dann aber nicht zerfließen, nein, irgend jemand fällt ihr ins Wort, es ist ja nur Theater im Theater, sie wirft sich Trigorin, dem Novellisten mit Notizbuch, zu Füßen, auch diese Spur bricht ab, wirkliches Gefühl kommt dazwischen, und am Ende bleibt nichts übrig als Schwerstarbeit an Details: keine Figur, weder die eine, das Monstrum an Eitelkeit, noch die andere, das unglücklich gealterte, verwöhnte Kind.

Sinnreich schlägt sich Martin Wuttke als Sohn Konstantin durch diese Wirrnis und gibt dem verblasenen Schöngeist einen ganz ungewöhnlichen, kräftig jungenhaften Kontrapunkt hinzu, in schöner Einsamkeit freilich, denn ihm fehlt völlig das Mädchen, die Nina Zaretschnaja. Nicht weil sie ihn verläßt, sie ist gar nie da, Lena Stolze hat ihre Stelle mit einer reinen Kunstfigur besetzt. Daß sie allerliebst vom Theater schwärmt und dem Trigorin nachläuft, scheint eine Sache des Prestiges, nicht der Verführbarkeit. Sohn Konstantin erschießt sich trotzdem, doch zu diesem Zeitpunkt hat man schon begonnen, auf die Uhr zu schauen. Das Drama ist längst zu Ende, im Grunde mit dem letzten Auftritt von Traugott Buhre, dem alten Bruder der Irina Nikolajewna. „Ich will leben“, sagt er dem Arzt, „sie sind so satt.“ Er hat ja so recht, und wann immer dieser Satz fällt, wird der Abstand meßbar zwischen diesem sparsam gezeichneten, aber erschütternden alten Mann und dem übrigen Mischmasch an kunstfertigen Übungen ohne Ziel. Aber ein wenig Tschechow ist es gleichwohl geworden, und wenn sich Joosten nun den noch um einiges unverwüstlicheren Shakespeare vornehmen will, wird wohl wieder nicht allzu viel schiefgehen. Wenn dann der Applaus wieder so verhalten sein sollte, muß es nicht am Hamburger Naturell liegen.

Anton Tschechow: Die Möwe. Thalia Theater Hamburg, Regie: Guy Joosten. Mit: Hildegard Schmahl, Martin Wuttke, Traugott Buhre, Lena Stolze, Hans Kremer, Martina Schiesser. Nächste Aufführungen: 19., 22., 26., 31.März und 1.April.

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