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Lehrjahre des Körpers

■ Über den amerikanischen Schriftsteller Edmund White

Es gibt Literaturkritiker, die warten noch immer auf den großen, allumfassenden Roman, der ein vollständiges Panorama unserer Epoche zu liefern hätte: mit all ihren Themen und Problemen, ihren Leidenschaften und Hoffnungen. So etwas wie ein Krieg und Frieden des späten 20.Jahrhunderts also. Aber das sind Nostalgiker. Sie haben immer noch nicht begriffen, daß es in einer pluralistischen Kultur die eine verbindliche Perspektive nicht geben kann, den Blick aus der Totale, der alles sieht und weiß wie einst der allmächtige Gott. Die Individualisierung und Fragmentierung aller Erfahrung ist ein Resualtat der Moderne, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Deshalb ist heute alle Literatur Minderheitenliteratur.

Um so erstaunlicher daher, daß ein Buch wie Edmund Whites A Boy's Own Story bei Kritikern wie bei Lesern in den USA (und inzwischen auch bei uns) eine so große Resonanz gefunden hat. Denn die Geschichte, die es erzählt, ist so selbstverständlich nicht: Es handelt sich um die Pubertätsgeschichte eines homosexuellen Jungen. Edmund White ist in Amerika kein unbekannter Autor mehr. 1940 in Cincinatti geboren, debütierte er 1973 mit dem Roman Forgetting Elena und erntete damit sogleich viel Lob von Kritikern wie Susan Sontag, von Schriftstellerkollegen wie Gore Vidal, Christopher Isherwood oder William S. Burroughs. Kein Geringerer als Wladimir Nabokow nannte White den amerikanischen Schriftsteller, den er am meisten schätze. 1978 folgte dann Nocturnes for the King of Naples, 1982 A Boy's Own Story und 1988 die Fortsetzung dazu: The Beautiful Room is Empty. Dies beiden Bücher liegen jetzt in der Übersetzung von Benjamin Schwarz auch auf Deutsch vor.

Eine Jugend im amerikanischen Mittelwesten der fünfziger Jahre also. Es ist die Welt der protestantischen weißen middle class, in der ökonomischer Erfolg, gute Tischmanieren und die Mitgliedschaft im football team die sozialen und kulturellen Leitbilder abgeben, auf die es ankommt. Und in der es nichts Schlimmeres gibt, als Kommunist, Rauschgiftkonsument oder homosexuell zu sein. Aber Whites Romanheld ist kein halbstarker angry young man, wie ihn etwa Marlon Brando oder James Dean in den Kultfilmen der fünfziger Jahre verkörpern. Die Schlupflöcher, die Fluchtwege aus dieser gesicherten Bürgerlichkeit, die er entdeckt, sind auf den ersten Blick weniger spektakulär. Und auch der Tonfall, mit dem White erzählt, vermeidet jede reißerische Geste, scheint eher der Erzähltradition des 19.Jahrhunderts zu entstammen: psychologisch einfühlsam und humoristisch.

Kommt einem das alles nicht irgendwie bekannt vor? Der Junge, der sich in seinen Tagträumen verliert, seinen Büchern und Schallplatten, und auf den Märchenprinzen wartet, der ihn erlöst und befreit. Die Freundschaft zwischen den ungleichen Klassenkameraden: dem altklugen Intelligenzler mit Brille und dem blonden, blauäugigen Naturburschen. Der wohlformulierte Liebesbrief an ein Mädchen, das seinem Verehrer dann schließlich doch einen Korb gibt. Die verschämten, verstohlenen Blicke im Umkleideraum und unter der Dusche nach den Sportstunden in der Schule. Das Internat und das College als Ort heimlicher Sehnsüchte und verbotener Leidenschaften. Der vertrottelte Psychiater, der seine Klienten auf den Weg der Normalität zurückführen soll, während er selbst ständig zu Pfefferminzbonbons und zu einer Flasche Bourbon greift. Der unerreichbare, misanthropische Vater, der tagsüber schläft und nachts arbeitet, während die sanfte Melancholie seiner Brahms-Platten das ganze Haus durchflutet.

Es gibt ja so etwas wie eine Tradition der schwulen Coming-out-Geschichte, längst bevor es diesen Begriff gab. Der verträumt-sensible Hanno Buddenbrook und seine Freundschaft mit Kai Graf Mölln. Tonio Kröger und Hans Hansen. Die Strandszenen in Travemüde, wo Jappe und Do Escobar sich prügeln und die anderen Jungs ihnen lüstern dabei zusehen. Der Schlafsaal im Internat der k.u.k.-Monarchie, wo Basini heimlich zum Bett von Törleß schleicht. Die laue Mainacht in King's College/Cambridge, als E.M. Forsters Maurice durchs offene Fenster ins Zimmer von Clive steigt und ihn küßt. Und die scheuen, verlegenen Blicke, die Vater und Sohn, Thomas und Hanno Buddenbrook austauschen, wenn sie sich im Treppenhaus begegnen.

Aber was in all diesen Geschichten vom Beginn unseres Jahrhunderts nur vage angedeutet oder camoufliert wird, nennt Edmund White beim Namen: die Sexualität. „Sexualität ist das Thema, über das ich als Schriftsteller am liebsten schreibe“, hat White kürzlich in einem Interview gesagt. Und er meint damit eine Literatur, die sich auf dem schmalen Grad zwischen Pornographie einerseits und sentimentaler Gefühlsprosa andererseits bewegt: „Ein Schreiben über das, was tatsächlich beim Sex in jemandes Kopf vorgeht.“ Er hält das für ein literarisch noch wenig erschlossenes Feld und den Schriftsteller auf diesem Gebiet für so etwas wie einen Forschungsreisenden, der auf fremdes, unbekanntes Terrain vorstößt.

So sind denn in diesen Familien- und Bildungsroman immer wieder Episoden und Figuren eingestreut, die zeigen, daß diese Lehrjahre des Herzens auch Lehrjahre des Körpers sind, Stationen sexueller Erfahrung. Der Pfadfinder-Häuptling, der im Zeltlager den ihm anvertrauten Jungs an die Hose geht. Der Stricher, den sich der 14jährige für das Taschengeld leistet, das er beim Ferienjob in der väterliche Firma verdient hat. Der Junge auf Ferienbesuch, der ganz cool in der Apotheke nach Vaseline verlangt. Das dichtende Lehrerehepaar im Internat, das den Schüler zu einer Ménage à trois verführt. Der Haschisch rauchende Musiklehrer, der sich sexuell erpressen läßt. Der Buchhändler, der sein ganzes Vermögen verschwendet, weil er einem verheirateten Polizisten verfallen ist. Der Kommilitone im College, der nach einem exzessiven Zechgelage den Erzähler zu sich ins Bett zieht. Und parallel dazu immer wieder das schlechte Gewissen, die Sitzungen beim Psychoanalytiker, der Wunsch, endlich ein „normaler“ Mann zu sein.

Schließlich — das gehört alles schon in den zweiten Band — das Doppelleben im New York der sechziger Jahre. Tagsüber der Job als Redakteur bei einer Zeitschrift, nachts street cruising, das Abtauchen in die Unterwelt, die flüchtigen Orgien in den öffentlichen Bedürfnisanstalten. Und der Versuch, den Mann fürs Leben zu finden. Als Paukenschlag am Schluß dann der Christopher Street Day, jener 28.Juni 1969 in New York, der zum Jour de la Bastille der Homosexuellenbewegung werden sollte.

Es gibt Literaturkritiker, die sprechen von einem Qualitätsverlust der homosexuellen Literatur seit den heroischen Zeiten von Henry James, Oscar Wilde, E.M. Forster oder Marcel Proust, weil als Folge der sexuellen Liberalisierung in den siebziger Jahren die kunstvolle Maskierung der tabuisierten sexuellen Inhalte überflüssig geworden sei. Edmund Whites Bücher widerlegen diese Befürchtung. Seine Version einer schwulen éducation sentimentale gewinnt gerade aus der Spannung zwischen dem scheinbar altmodischen Erzählstil und den eingestreuten sexuellen Details ihren Charme und ihren Reiz. Die Rückkehr zu einer eher traditionellen, realistischen Erzählweise teilt er mit einigen jungen homosexuellen Autoren aus Amerika wie etwa dem 1961 geborenen David Leavitt. Sie bedeutet einen Ausbruch aus der Insider-Ästhetik des New Yorker Schwulenghettos, eine Absage an das, was man campy genannt hat. Also den manierierten, anspielungsreichen, parodistischen Stil der urbanen, großstädtischen gay community, wie er bei uns in Europa etwa in den Büchern des Berliner Detlev Mayer oder in den Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodovar anzutreffen ist. White hat zwar selbst lange in den Metropolen der amerikanischen Ostküste und in Paris gelebt (er arbeitet dort zur Zeit an einer Biographie von Jean Genet), sich aber doch etwas von der provinziellen Bodenständigkeit des Midwesterners bewahrt. Er fühlt sich keiner ästhetischen Doktrin, keiner literarischen Partei verpflichtet.

Nocturnes for the King of Naples war noch ein lyrischer monologue intérier gewesen, fast ein poème en prose, eine Elegie für einen verlorenen Gebliebten. Diesen lyrischen, musikalischen Tonfall hat White dann in A Boy's Own Story — seinem bislang besten Buch — verschmolzen mit einer präzisen, detailgenauen Beschreibung von Stimmungen, Alltags- und Körpererfahrungen. So ist eine Sprache entstanden, die sich in großen durchrhythmisierten Perioden ausschwingt, die leuchtet in allen Farben des Regenbogens. Und damit genau jene vage, hochsensibilisierte und erregbare Stimmungslage des heranwachsenden Jünglings trifft, von der sie erzählen will.

„I'm a minor writer“, sagt Edmund White über sich selbst. Ein Autor von kleiner Literatur also, von Minderheitenliteratur. Aber anders als unsere Großschriftsteller hierzulande, die ihre letzten literarisch bedeutenden Bücher vor dreißig Jahren geschrieben haben und ihre nachlassende poetische Kreativität seither in der anachronistischen Pose des Zivilisationsliteraten und praeceptor Germaniae durch politische Rhetorik zu kompensieren suchen, hat er wirklich noch etwas zu erzählen. Und wie! Rolf Spinnler

Edmund White: Selbstbildnis eines Jünglings. Aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz, München 1990, 288 Seiten, 38DM.

Und: Und das schöne Zimmer ist leer. Aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz, München 1991, 320Seiten, 38DM.

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