: Mies, eine Form des Denkens
Ein „Mies van der Rohe- Symposium“ mit Stararchitekten: Abbrucharbeiten an den Fundamenten des Übervaters ■ Von Martin Kieren
In Berlin wird fast nichts mehr gebaut — jedenfalls nicht im Bereich des alten Zentrums —, ohne daß zuvor nicht gründlich diskutiert würde. Es werden Kolloquien und Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, Ausstellungen der Senatsverwaltungen organisiert. Die Wettbewerbsausschreibungen haben meist einen langen historischen Vorspann, gebildet und ausgiebig im Stile von Gutachten formuliert, und es wird ein um das andere Mal auf die städtebaulichen und architektonischen Figurationen hingewiesen, die an diesem oder jenem Standort vor den Zerstörungen durch Krieg und Wiederaufbau existierten. Vor lauter Kopflastigkeiten mit den baulich-räumlichen und historischen Vorgaben fühlen sich die Architekten bei der Findung beziehungsweise Bearbeitung eines Entwurfes dann verpflichtet, wörtlich oder anbiedernd-frivol — zu Recht mit der einfach gestrickten Denkstruktur vieler (nicht aller!) Preisrichter rechnend — das Alte zu kopieren: den Stadtgrundriß, die Parzellenstruktur, die Traufhöhe („22Meter!“ ruft der Kenner der Berliner Verhältnisse), die architektonische Figur oder Kubatur. Verläßt aber einmal ein wirklich interessanter Entwurf ein Büro Richtung Preisgericht — fallen die gewählten Damen und Herren über ihn her: „kein Maßstab“, „untypisch für Berlin“, „zwanghaft intellektuell“ und was es sonst noch ins Feld fader Argumente zu führen gilt.
Das Verfahren um den Wettbewerb „Potsdamer Platz“ im Jahre 1991 — man muß immer wieder darauf zurückkommen — hat das wahrscheinlich nicht zum letzten Male vorgemacht: Der vom Konzept her intelligenteste und im besten Sinne schöpferischste Beitrag, der von Oswald Mathias Ungers, wurde zwar plaziert, aber eben nicht als Nummer eins.
Inkunabeln der Moderne
Am letzten Freitag konnte man die Brillanz des architektonisch-konzeptuellen Denkers OM. Ungers abermals zur Kenntnis nehmen. Und siehe: Sein Redebeitrag wurde mit dem größten Beifall bedacht. Er sprach noch einmal von seinem im letzten Jahr gemachten Vorschlag, von der 'FAZ' und dem Deutschen Architektur Museum (DAM) Frankfurt initiiert, ausgestellt und publiziert, in der Stadt Berlin die Inkunabeln der Moderne zu bauen: Tatlin, Mies und Co. Ungers stellte richtig, daß es ihm mitnichten um den ernsten Vorschlag gegangen sei, diese seinerzeit nicht gebauten Gebäude nun doch hier und losgelöst von ihrem ursprünglichen Standort zu errichten, vielmehr solle man diesen Vorschlag literarisch verstehen. Berlin sei schließlich immer „Sammelplatz von Ideen“ gewesen, und so wollte er halt eine Idee zum Weiterdenken beisteuern. Aus gegebenem Anlaß sagte Ungers: Wenn man jetzt daran ginge, auf dem dreieckigen Grundstück neben dem Bahnhof Friedrichstraße — dem Standort des „Tränenpalastes“, der Zoll- und Visadurststrecke zwischen West und Ost vor dem Fall der Mauer — den legendären Hochhausentwurf aus Stahl und Glas von Mies van der Rohe aus dem Jahre 1921/22 zu bauen, bezeuge man nur einen „Mangel an Respekt“ gegenüber diesem Architekten. Auch Mies hätte seinerzeit eine „Idee“ beziehungsweise eine „Botschaft“ im Kopf gehabt, mithin ausschließlich eine Idee zum Sammelbecken Berlin beisteuern wollen. Der Entwurf sei Konzept, Programm und „Gegenmodell zur Stadt des 19.Jahrhunderts“, Mies schließlich, wie viele seiner programmatisch arbeitenden Zeitgenossen, „Kind seiner Zeit“ gewesen.
Eine Bischofskonferenz
Der Anlaß: In diesem Jahr noch wird für genau dieses Grundstück im Auftrag des Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz ein internationaler städtebaulicher und architektonischer Wettbewerb ausgeschrieben. Der findige und intelligente Architekturhistoriker und Verfasser eines Buches über Das Kunstlose Wort Mies van der Rohes (1986), Fritz Neumeyer, organisierte nun flugs in der Neuen Nationalgalerie — an Mies' 106.Geburtstag in dessen letztem Bau — eine hochkarätig besetzte und etwas hochgeschraubte „Mies van der Rohe Symposium“ genannte Diskussionsveranstaltung mit folgender Besetzung: die Architekten Josef Paul Kleihues (Berlin), Hans Kollhoff (Berlin), Rem Koolhaas (Rotterdam), Gene Summers (Chicago) sowie Vittorio Magnago Lampugnani (Architekturhistoriker, Direktor des DAM, Frankfurt/M.), Franz Schulze (Architekturhistoriker und -theoretiker, Chicago), Ignasi de Solà-Morales (Architekturtheoretiker, Barcelona) und Oswald Mathias Ungers (Architekturtheoretiker, Köln). Man durfte einigen Sprengstoff erwarten — es zischte und puffte aber nur verhalten in dem sich durch schlechte Akustik auszeichnenden Stahl- und Glasgehäuse, das ursprünglich für eine Rum- Firma als Bürogebäude entworfen worden war.
Gleich zu Beginn der ausgesprochen gut besuchten Veranstaltung stellte der Organisator und Moderator Fritz Neumeyer mit souverän gespielter und unterhaltsamer Eloquenz, gut vorbereitet, die Weichen fürs publico und für die Presse: Man befände sich hier auf einer tendenziösen Veranstaltung, auf dem Podium säßen ausschließlich Bewunderer, Verehrer und Freunde Mies van der Rohes, mithin solle man keine konträre Diskussion, sondern eine solche erwarten, bei der es um Qualität und um Argumente gehen werde — man erwarte ja schließlich nicht von einer Bischofskonferenz, daß Atheisten eingeladen würden.
Aber mit den letzteren hat es ja so seine eigene Bewandtnis: Die lautesten Atheisten und Agnostiker sind im Kern oft gläubiger, als sie es zeigen oder manchmal auch wahrhaben wollen, wobei der Glaube an den Unglauben jegliche Beweisführung schon dem Glauben und nicht dem Wissen um Etwas überläßt. Ein guter und aufrecht-aufrichtiger, mithin authentischer Atheist fühlt sich dann eher bemüßigt, sich doch dem publico als Gläubigen zu offenbaren, wenn er merkt, daß die Argumente seiner Kritiker zu schwach sind: Er springt diesem also bei.
Vom Bau einer Ikone
Herrn Neumeyer ging es darum, um es auf den Kern zu bringen, argumentativ zu beweisen, daß es eigentlich gar keine andere Möglichkeit gäbe, als sich dem Entwurf von Mies zu stellen, diesen jetzt, hier und heute zu bauen: Jede Alternative müßte sich letztlich „am Mies'schen Entwurf messen lassen“, und wer wolle das schon? Gegen Mies komme keiner an. Zudem sei der Entwurf als Dokument seiner Zeit und als „das imaginäre Monument des 20.Jahrhunderts“ (Neumeyer), dem Eiffelturm in Paris — als Monument des 19.Jahrhunderts — ebenbürtig. Die Frage nach der Nutzung wurde nicht gestellt — nun gut: Bei dem von Mies entwickelten Verfahren des „offenen Grundrisses“ dürften hier eine Bank ebenso wie Developer-Büros oder Versicherungen residieren können.
Die Mitstreiter auf dem Podium aber waren an diesem Abend etwas renitent. Herr Kleihues war vorsichtig und stellte pragmatische Fragen: nach der Urheberschaft eines Architekturentwurfes, nach dem Baurecht und der Konstruktion. Im Falle einer Realisierungsentscheidung für den Mies'schen Bau: Wer wolle denn heute Mies interpretieren? Bei der Anzahl von vorhandenen Skizzen seien die „Fragen nach der Authentizität und der Identität dessen, was Mies meinte oder meinen könnte, vorrangig zu stellen“ — aber eben nicht befriedigend zu beantworten.
Rem Koolhaas, einer der intellektuellen Konzeptualisten der gegenwärtigen jungen Architektenriege Europas, meinte, man müsse auf jeden Fall eine Situation vermeiden, in der sich zum wiederholten Male die in Berlin Verantwortlichen paralysieren lassen von einer hier konstruierten Situation: Wie eine Katze auf eine Stelle zu starren, habe einer Stadt noch nie gut getan, es gäbe wahrscheinlich auch wichtigere anstehende Entscheidungen.
Hans Kollhoff bedauerte das Maß an Desillusionierung, das in dieser Stadt seit zwei Jahren durch die praktizierte Baupolitik und die Diskussion unangenehm steige. Mies' Hochhausentwurf stehe eben für eine „Aufbruchstimmung seiner Zeit“, und, wenn überhaupt, solle man versuchen, diese Stimmung wiederherzustellen statt das Gebäude nun zu errichten, das ihm im übrigen zu sehr aus dem Kontext des seinerzeit dreieckigen Grundstückes heraus gedacht sei und so Qualität einbüße. Die eigentliche Qualität käme von innen: aus den angedachten technischen Möglichkeiten und aus denen der funktionalen Ansprüche an ein modernes Gebäude.
Franz Schulze zeigte sich hauptsächlich überrascht, daß man in Berlin an diesen Bau beziehungsweise an seine Realisierung überhaupt denke; und er stellte noch einmal klar, daß dieser Entwurf im eigentlichen Sinne gar kein Hochhaus sei: Im Aufriß, also in der Fassadenansicht, sehe man nämlich ein liegendes Rechteck.
Lampugnani brachte, nach etwas krausen Ausführungen über sein Verhältnis zur Stadt Berlin, seiner Heimatstadt Mailand und seiner Wahrnehmung von Stadt überhaupt, einen ganz frischen Gedanken ins Spiel: Wieso, sagte er, man müsse diesen Entwurf gar nicht mehr bauen, er verbinde sich sowieso mit Berlin, sei eigentlich schon da und gehöre längst zum Kanon der Berliner Moderne der zwanziger Jahre. Voilá. C'est tout!
Kleihues wies auf die Bedeutung des „Arbeitsrates für Kunst“ hin, aus dessen Geist Mies diesen Entwurf gefertigt habe, auf die Möglichkeit, Mies könnte auch aus reiner Protesthaltung gegen das konservative Preisgericht diesen Entwurf geliefert haben (als „Herausforderung“, also nicht als konkrete Bauidee) und brachte auch noch seine architektonische Interpretation in die nicht folgende Diskussion ein: Für ihn sei der Entwurf das höchste Maß an „Sublimierung von Transparenz und Abstraktion“, und dies seien für ihn „die emblematischen Begriffe der modernen Architektur“.
Plädoyer für das Neue
Ja, und nun? Fritz Neumeyer versuchte mit einer rhetorischen Frage aus dem sich abzeichnenden Dilemma nach vorne zu flüchten: „Was kann man sich als Architekt auf diesem ,belasteten‘ Grundstück überhaupt vorstellen?“ Woraufhin Rem Koolhaas gleich zu kontern wußte: „That's a bad question! Architecture is a form of thinking.“
Eine rechte Diskussion wollte nicht zustande kommen, ein Symposium schon gar nicht. Allein das neuerliche, aber schon verhaltenere Plädoyer für eine Realisierung des Mies'schen Entwurfes brachte dem Organisator Schelte von Ungers: Warum eigentlich plädiere er bei dieser Haltung nicht für die Errichtung des Denkmals für Friedrich den Großen auf dem Potsdamer beziehungsweise Leipziger Platz von Friedrich Gilly (1797), einem in seiner Bedeutung für Berlin ebenso wichtigen Entwurf wie der von Mies? Man solle das lassen und einen internationalen Architekten-Wettbewerb ausschreiben. Wollte man das aber nicht schon vorher?
Wenn man mitunter denkt, daß Veranstaltungen überflüssig sein können, hätte man meinen können, einer solchen beigewohnt zu haben.
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