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Der Weg zum Sozialismus führt über Versuch und Irrtum

■ Der Stand der wissenschaftlichen Arbeiterbildung „am Ende eines Zeitalters“ / Aus der Bremer Akademie

Aus der Utopie von der brüderlichen, friedlichen Gesellschat sollte eine Wissenschaft werden, hat Friedrich Engels den Arbeitern vor 150 Jahren versprochen: Frieden, Fortschritt, Sozialismus. Arbeiter und Gewerkschaften, die das geglaubt haben, müssen sich von ihrer Wissenschaft betrogen fühlen. Das Ende der realsozialistischen Hoffnungen stellt Institutionen, in denen Gewerkschaften und Wissenschaft kooperieren sollen, vor besondere Herausforderungen. Die Bremer „Akademie für Arbeit und Politik“, in der Arbeiter fortgebildet werden sollen, stellte deshalb die zentrale Frage: „Ist der Sozialismus gescheitert?“ In diversen Vorträgen und Veranstaltungen sollten Antworten gefunden werden. Es war das Jahr 1990, das Bollwerk des „realen Sozialismus“ war gefallen.

„Wer zu früh kommt, den bestraft die Geschichte“

Einige der Beiträge liegen nun in einem kleinen Buch vor — überarbeitet. Die Wissenschaftler sahen ihren Vortrag offenbar schneller von der Zeitgeschichte überholt als der VSA-Verlag die Drucklegung der Texte besorgen konnte, die die „aktuelle Diskussion in der Arbeitnehmerbildung dokumentieren“ sollen.

Für Eberhard Fehrmann, Mitherausgeber des Bändchens und Geschäftsführer der Angestelltenkammer, ist der Fall im Grunde klar: Der „Linksidealismus“, der 1917 gewann und der in Gestalt von Stalin dem Marxismus per Bindestrich den „-Leninismus“ anhängte, ist gescheitert, mehr nicht. Derselbe Linksidealismus, in dessen Geist die „68er Bewegung und mit ihr die Gewerkschaftslinke in den 80er Jahren“ auf „Technikpessimismus und Maschinensturm, Wissenschaftsfeindlichkeit, katasptrophenschwangere Zivilisationskritik, Weltuntergangsstimmung und ...Naturverherrlichung“ setzte, ist gescheitert.

Was Stalin und der Kommune 1 fehlte, war ein Quentchen „Grundwesen des Marxismus“, nämlich die „Geduld und Bescheidenheit gegenüber dem Verlauf der Geschichte“. Das Ende des Ostblocks, so Eberhard Fehrmann, „verhilft dem wissenschaftlichen Sozialismus wieder zu seinem Recht.“ Irgendwie scheint Marx immer wieder falsch interpretiert worden zu sein.

Die Bremer Akademie für Arbeit und Politik hatte damals auch Thomas Kuczynski von der Ostberliner Akademie der Wissenschaften eingeladen, der mit seinem Thema „Ist der Sozialismus wirklich gescheitert?“ das Motto gab. NEIN schreit schon aus dieser Fragestellung, Kuczynski jun., ganz in den Fußstapfen seines berühmten Vaters, entwirft mit leichter Feder eine historische Rechtfertigung für dieses NEIN: Stets habe sich eine neue Gesellschaftsformation „schwächlich ausgenommen gegenüber der Pracht ihrer noch mächtigen Vorgänger“. Der „reale Sozialismus“ sei so vergleichbar nur mit dem brutalen englischen Frühkapitalismus im 17. Jahrhundert. Die neue Gesellschaftsformation entstehe immer an der Peripherie des Alten. „Sozialismus“ muß „zu früh“ beginnen, findet Kuczynski — also das glatte Gegenteil von Fehrmann — kommt aber weltanschaulich zu demselben Schluß: „Die Situation hat sich zumindest in dieser Beziehung zu Engels' Zeiten nicht geändert: die bürgerliche Gesellschaft steht noch immer vor der Alternative 'Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei'.“

Die Akademie für Arbeiterbildung und Arbeiterpolitik im Lande Bremen hatte auch den alten Theodor Bergmann (Jg. 1916) eingeladen, um aus dessen Lebenserfahrung Mut zu saugen: „Der Weg zum Sozialismus... Führt über 'trial und error'“ (Versuch und Irrtum).

Wie der Ölpreis Marx ein Schnippchen schlug

Sehr viel weniger optimistisch ist Mitherausgeber und Akademie- Dozent Frank Neumann, der kurz nach dem Golfkrieg über die „Sehnsucht nach dem Weltfrieden“ referierte. „Der Kalte Krieg war der Frieden“, findet Neumann nachträglich, nun aber wird die Friedensmacht schwach: „Die Hoffnung der armen Länder wie Vietnam oder Kuba auf Unterstützung ihrer nationalen Unabhängigkeit muß die Sowjetunion zusehends enttäuschen“.

Neumann liefert auch die Antwort auf eine Frage, die sich in dem Bändchen von Aufsatz zu Aufsatz immer beängstigender aufdrängt: Was sagt die Arbeiterbildung den Arbeitern über die Rolle der Arbeiterklasse „am Ende eines Zeitalters“? „Geduld“ verlangt der wissenschaftliche Sozialismus nach Meinung von Angestelltenkammer-Geschäftsführer Fehrmann, und Mitherausgeber Neumann erläutert: „Die von ihm (gemeint hier: Marx) prognostizierte Zuspitzung der Klassenkämpfe, geboren aus einer fortschreitenden Verelendung des Proletariats, hat nicht stattgefunden“.

Warum? Weil durch den „niedrigen Preis für erzeugte Energie“ eine „enorme Produktivkraft der Arbeit“ erreicht wurde. So ließ sich kurz nach dem Golfkrieg die Brücke zwischen Marx, der Arbeiterklasse und dem Krieg kurz schlagen: „Im Golfkrieg (wurde) mit dem Kampf um einen niedrigen Ölpreis... auch die Grundlage des Klassenkompromisses in den reichen Ländern verteidigt“. Es scheint demnach in ihrem wohlverstandenen Interesse vernünftig, wenn Arbeiter mit den Piloten der US-Army mitfieberten. Am Ende katastrophenschwangere Zivilisationskritik und keine Hoffnung für „uns und unsere Sehnsucht nach Frieden“ (Neumann), geschweige denn eine Aussicht auf neuen Sozialismus, der die einzige Alternative zur Barbarei sei.

Am Ende eine „ruinöse Hinterlassenschaft“

Was macht die Arbeiterbildung angesichts dieses Scherbenhaufens aus Linksidealismus, Error- Meldungen und nicht-verelenden-wollender Proletarier? Eberhard Fehrmann schließt seinen Beitrag mit einer düsteren Erkenntnis und wahrlich bescheiden gegenüber dem Verlauf der Geschichte: „Die Entsorgung dieser ruinösen Hinterlassenschaft wird viele Jahrzehnte und ebensoviele Generationen in Anspruch nehmen.“ K. W.

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