IWF mißt weiter mit zweierlei Maß

Internationaler Währungsfonds bewertet Wirtschaftspolitik der Industrienationen mit Nachsicht, Entwicklungsländer werden an harten Stabilitätskriterien gemessen/ Ausblick auf Weltwirtschaft  ■ Aus Washington Donata Riedel

Deutschland bleibt auch nach der Vereinigung das drittreichste Land der Erde. Ansonsten hat der Internationale Währungsfonds (IWF) enorme Schwierigkeiten, mit der vergrößerten Bundesrepublik umzugehen, die bislang einen festen Platz unter den sieben größten Industriestaaten (G-7) hatte. Wie, so rätselten die IWF-Statistiker beim Erstellen ihrer diesjährigen Weltwirtschafts- Prognose, sollten sie die an und für sich eindeutige Konjunkturbelebung in den wichtigsten Volkswirtschaften darstellen, wenn ein Land in weiten Bereichen weiter Rezessionstendenzen ausweist?

Die Lösung ist einfach: Man läßt beim Aufsummieren der Trends Deutschland einfach weg und konzentriert sich auf die anderen G-7- Staaten USA, Japan, Frankreich, Italien, Großbritannen und Kanada. Deren Bruttosozialprodukt beginnt in diesem Jahr wieder stärker zu wachsen, die Verbraucherpreise und die Geldmenge steigen langsamer — alles Zeichen für ein stabiles Wachstum. Demgegenüber klettern in Deutschland Inflationsrate und Geldmenge schneller als zuvor, und das Bruttosozialprodukt nimmt deutlich langsamer zu.

Mit den Daten zur Weltwirtschaft, die Michael Mussa von der IWF-Forschungsabteilung gestern in Washington präsentierte, werden sich von Samstag bis kommenden Dienstag die IWF-Gremien befassen. Der Interimsausschuß des IWF und der Entwicklungsausschuß der Weltbank (s. Kasten) werden darüber befinden, welchem Land unter welchen Bedingungen wie hohe Kredite zugestanden werden. Außerdem stehen die Aufnahme der ehemaligen Sowjetrepubliken (s. taz v. 16. u. 20.4.) sowie die Frage nach einer weiteren Erhöhung des IWF-Kapitals auf der Tagesordnung.

Bei der Beurteilung der Wirtschaftspolitik seiner Mitgliedsländer mißt der IWF wie in den Vorjahren mit zweierlei Maß — für die Industrieländer und die Entwicklungsländer (außer Osteuropa und der Ex- UdSSR). Den Problemen der 23 Industriestaaten bringen die IWF-Statistiker weiterhin großes Verständnis entgegen: Die US-Regierung „konnte“ ihr Budgetdefizit nicht durch höhere Leitzinsen „absenken“, weil sie die rezessionsgeplagte heimische Wirtschaft nicht „entmutigen“ wollte. Deutschland muß nach der Vereinigung „vorrangig die Inflation bekämpfen“, auch wenn die hohen Leitzinsen den anderen EG- Ländern die Überwindung der Rezession erschweren. Immerhin hätten es die Industriestaaten geschafft, ihre Neuverschuldung von 100 Milliarden Dollar (1990) auf 25 Milliarden zu senken — was keinesfalls ein Resultat der empfohlenen Sparpolitik, sondern ein Ergebnis des Golfkriegs ist, da die kriegsausführenden Länder dafür weit mehr Geld kassierten, als sie ausgegeben haben.

Die Politik der Entwicklungsländer hingegen wird in dem IWF-Bericht durchgängig nach harten Stabilitätskriterien beurteilt. „Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum kann nicht in der Umgebung von gleichbleibend hoher Inflation erreicht werden, in dem die Funktion des Preismechanismus gestört ist“, lautet die Lehre, die der IWF aus der Schuldenkrise der 80er Jahre zieht. Länder wie Brasilien, die sich nicht vorrangig die Bekämpfung des Haushaltsdefizits als Ziel gesetzt haben, dürften deshalb weiterhin größere Schwierigkeiten bei der Kreditaufnahme haben als Staaten wie Mexiko, Ghana oder Marocco, die für ihre Sparprogramme gelobt werden.

Zwar gesteht der IWF den armen Ländern zu, daß sie ihre Misere nicht völlig alleine verursacht haben. Handelsschranken, hohe Zinsen auf dem Weltkapitalmarkt und fehlende Auslandsinvestitionen, die nur von den Industriestaaten als den Verursachern beseitigt werden könnten, werden von den Statistikern als Wachstumshemmnisse angesehen. Zuerst aber, fordert der IWF, sollen die Entwicklungsländer selbst handeln, indem sie ihre „Finanzpolitik ausbalancieren“. In der Regel können das die armen Länder aber nur, indem sie die Sozial- und Bildungsetats zusammenstreichen, was wiederum den ärmsten Teil der Bevölkerung am härtesten trifft. So sehen sich besonders die südamerikanischen Regierungen in der paradoxen Situation, daß deren Wirtschaft sich zwar mit Raten von zwei bis sieben Prozent auf dem Wachstumspfad befindet, aber ein immer größerer Teil der Bevölkerung wirtschaftlich noch schlechter dasteht als vor einigen Jahren. So sehen etwa die Wirtschaftsdaten Venezuelas aus europäischer Sicht sehr gut aus. Gleichzeitig fallen aber dort die Realeinkommen; die öffentlichen Einrichtungen funktionieren weit schlechter als in den 80er Jahren. Der frühere brasilianische Präsident Jose Sarney bezeichnet deshalb den ökonomischen Wandel zum Besseren inzwischen als „Pseudo-Stabilität“, die nur die herrschende Weltordnung festige: „Die Inflation geht zurück, internationale Banken erhalten Zinsen und Dividende, das Land gilt als gefestigt — aber was bleibt, sind Arbeitslosigkeit, Sklavenlöhne und furchtbare Sozialdaten.“

Bei den Vertretern der Entwicklungsländer, die am Wochenende parallel zu den offiziellen IWF- und Weltbankgremien tagen, wird voraussichtlich die vergleichsweise großzügige IWF-Hilfe für Rußland für Verbitterung sorgen. In die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wollen IWF und Weltbank in den nächsten vier Jahren 45 Milliarden Dollar Aufbauhilfe pumpen.

Die USA waren sogar bereit, der von den Entwicklungsländern seit langem geforderten Quotenerhöhung zuzustimmen und zwölf Milliarden Dollar weiteres Fondskapital einzulegen — nicht genug, um neue Hilfszahlungen auch an arme Länder finanzieren zu können.